Alternativen

Dekonstruktion und Demokratie

Die Demokratie ist das Schlagwort der modernen Politik. Gleichzeitig ist sie so sehr in den allgemeinen Konsens übergegangen, dass niemand mehr so genau weiß, was er eigentlich sagt und meint, wenn er das Wort „Demokratie“ ausspricht.

Inzwischen dürfte in den vergangenen 30 Jahren deutlicher geworden sein, dass die planetarische Bewegung der neuzeitlichen Technik eine Macht ist, deren Geschichte-bestimmende Größe kaum überschätzt werden kann. Es ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem technischen Zeitalter überhaupt ein – und welches – politisches System zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich bin nicht überzeugt, dass es die Demokratie ist. “1

1Heidegger, Martin (1976): Interview mit Rudolf Augstein und Georg Wolff. In: Der SPIEGEL, 23/1976, S.193

 

Link zum Aufsatz (UB München)


Skizze zur Gewalt

Das Problem der Gewalt ist eines der schwierigsten Probleme unserer Zeit. Die Gewalt taucht in komplexer und stets unterschätzter Weise in allen Sphären des Politischen auf: Der Nahostkonflikt, der russischen Widerstand gegen die Oligarchie, der europäischen Antifaschismus, die Vorgänge in der arabischen Welt, die Proteste und Besetzungen in der westlichen Welt und viele weitere Phänomene lassen sich als Geschichte von Gewalt und Definitionsmacht über den Begriff der Gewalt rekonstruieren.

Gleichzeitig wäre es aber eine Lüge, eine besondere Notwendigkeit einer Auseinandersetzung über den Gewaltbegriff zu behaupten – die meisten dieser Felder, sei es der Antifaschismus oder der Kampf in Gaza, kommen sehr gut auch ohne einen wissenschaftlichen Gewaltbegriff aus. Schaden wird es aber nicht, sich analytisch mit dem Begriff „Gewalt“ und normativ mit dem Blick auf revolutionäre Gewalt zu beschäftigen. Insofern ist die Verführung natürlich groß, mit letzterem zu beginnen.

Die primäre revolutionäre Perspektive besteht in der heutigen Zeit erneut in einer massiven Steigerung der Gewaltbereitschaft Aller gegen Symbole der Herrschaft, der Staatsmacht, der Produktionsketten, des Konsum- und Warenfetischs sowie der Tradition in jeder Hinsicht. Nicht nur, dass sich einzig solche massive Gewalt – die immer illegal bleibt, und damit den unschätzbaren Vorteil genießt, niemals auf legalem Weg in die Autokonsommationskette der Gesellschaft reintegriert werden zu können – abstrakt gesehen dem Einzelnen einen Raum zur Geistesentfaltung gibt bzw. ihn dahin zwingt. Vielmehr wird auch ganz konkret erst auf dem Boden einer solchen Radikalisierung der Menge die tatsächliche Tat überhaupt erst möglich, weil physisch geduldet.

Das ist im Kleinen schon passiert und passiert derzeit im Großen, es ist aber darauf Acht zu geben, dass die Unruhen nicht sozusagen vor ihrem eigenen Schatten erschrecken und heuchlerischerweise noch im Status des gewalttätigen Handelns (z.B. der Besetzung) plötzlich Gewaltfreiheit zum Programm machen. Aufforderungen zum geregelten, gewaltfreien Protest oder zum sogenannten zivilen Ungehorsam (in dessen Name die Mittelmäßigkeit schon eingeschreiben ist) sind deshalb mit großem Argwohn zu beobachten.

Dieser Forderung nach Gewaltbereitschaft wird allerhand entgegengesetzt. Ganz Besonders wäre auf den Vorwurf der Barbarisierung der Verhältnisse einzugehen. Dem wäre vor allem mit der Feststellung zu begegnen – und damit nimmt man, wenn auch ungewollt so doch notwendigerweise, gegen jede Fortschrittsannahme der Aufklärer Stellung – dass wir uns nach wie vor und schon lange in einem Zustand unendlicher Barbarei befinden.

Mit einer solchen These ist natürlich so gut wie keine Politik zu machen, schon gar nicht im klassischen, d.h. für uns: demokratischen, Sinne. Ob eine Legitimation von gewaltsamen Widerstand gegen die Autokonsommation möglich ist, ohne  wiederrum in genau diesen Zusammenhang hereinzufallen, ist fraglich. Es gibt Anzeichen in beide Richtungen: Dafür sprächen vor allem Beispiele aus der Kunst, in denen sich z.B. sozialkritische Musiker erfolgreich nicht nur gegen ein Eintreten in die Musikindustrie verwehren (was ja mittlerweile zum guten Ton gehört), sondern auch beständig den Kampf gegen die Vereinnahmung durch ein vermeintlich ähnlich kritisches Publikum führen, das meint, die Kritik zu verstehen und zu teilen und zum Teil eines „kritischen Lifestyles“ machen zu müssen. Dagegen spricht allerdings die wahnwitzige Geschwindigkeit, mit denen z.B. die organisierte occupy-Bewegung Emotionen wie Wut, Hass und Ohnmacht in lauwarme Protestförmchen wie gewaltfreie und saubere Besetzungen gießt und so für eine nicht weniger mittelmäßige wie mittelständische Masse konsumierbar macht, die selbst viel mehr Teil des Problems sind, als sie noch in hundert Jahren zur Lösung beizutragen bereit wären.

Viel interessanter wäre es dagegen, diese ganzheitliche Perspektive einfach aufzugeben. Für die Praxis ist es im Endeffekt schließlich egal, ob es in der demokratischen Gesellschaft Raum für nicht schon im vornherein konsumierbar gemachten Widerstand gibt oder nicht – wenn man sich von Anfang an dagegen stellt und gar nicht den Anspruch erhebt, legitim oder gar demokratisch zu sein, stellt sich das Problem überhaupt nicht. Und man macht sich damit auch frei von nutzlosen Schlammschlachten – z.B. von dem Problem, das die Universitätsbesetzungen haben und immer hatten: Nämlich dass die Besetzer noch nie von sich behaupten konnten, für die Mehrheit der Studenten zu sprechen und sie legitim repräsentieren zu können, und trotzdem der Meinung waren, genau das zu tun, während sie sich eigentlich 90% ihrer Zeit damit beschäftigen mussten, wie sie es nach außen weiterhin so aussehen lassen könnten, als wären sie innerhalb der klassischen Terminologie legitimiert und demokratisch (was dann Gewaltfreiheit beinhalten musste). Widersinn².

Gewalt wäre also primär als Ausweg oder Gegengewicht zu den totalisierenden bürgerlich-demokratischen Systemen  zu denken. Das schließt „sinnlose“, willkürliche Gewalt weder notwendigerweise ein noch aus. Vermieden werden sollten aber die Affirmation von Essenzialisierungen wie der platten Form des Paars „Gewalt gegen Sachen“ und „Gewalt gegen Menschen“ – solche Unterscheidungen ziehen einfach nicht mehr und treffen die Realität nicht im Geringsten. Damit ist weder die Gewalt gegen Tiere zu sehen noch die Gewalt gegen Polizisten einzuordnen (und für Marxisten ist sicher interessant, dass eine solche Unterscheidung sich auch nicht mit dem Konzept des Klassenkampfes verträgt). Als Ausweg scheint die Orientierung an Symbolen geeignet – aber nur akls Ausgangspunkt und ohne auf der symbolischen Ebene bleiben zu dürfen: Nicht richtig ist, den Polizisten als Symbol für die Staatsmacht attackieren. Richtiger wäre, den Polizisten als Subjekt, als hier-und-jetzt zu attackieren, als Handelnden, der auch eine Alternative zu dem hätte, was er gerade tut. Nicht richtig wäre, die Wall Street zu besetzen, weil sie ein Symbol für  die Macht des Kapitals ist – richtiger wäre es, sie zu besetzen, weil sie der konkrete Ort ist, von dem hier und jetzt in diesem Moment die Spekulation mit Nahrungsmitteln stattfindet, die objektiv Menschen verhungern lässt.

Damit würde man auch drei Missverständnisse vermeiden: Erstens würde man eine Unterscheidung von herkömmlichem Muster des Terrorismus gewinnen,  der eben nicht ganz militärisch ein bestimmtes Ziel im Auge hat (was er haben könnte, da darf man ihn nicht unterschätzen) sondern gezielt auf nur auf Symbole ALS Symbole zielt. (Z.B. hat sich wohl keiner der Organisatoren der Anschläge in New York ernsthaft Hoffnungen gemacht, den USA wirklich die bürokratischen Ressourcen zur Ausbeutung und Kolonialisierung ihrer Stammesgebiete zu nehmen.)

Zweitens würde man dem (zwar überstrapazierten aber gerade in diesem Beispiel leider berechtigten) Vorwurf des strukturellen Antisemitismus der Aktivisten entgegnen. Indem man z.B. die Banken und Bänker nicht als Symbole für die Ausbeutung anprangert sondern konkret als Handelnde Einheiten, die auch anders hätten handeln können, vermeidet man die Diskriminierung aus abstrakten Gründen, der dann sehr schnell eine konkrete Zuordnung von Personen erfordert (wenn man sich eine praktische Perspektive erhalten will) und damit nur allzu leicht zu Antisemitismus führt.

Und drittens würde man die unsägliche Esoterierung der Proteste vermeiden.


Warum Dekonstruktion der Demokratie? Teil 1

Demokratie- und Rechtsstaatskritik hat es nicht immer leicht. Warum sie trotzdem notwendig ist, auch gerade wenn man demokratisch Denken will, lässt sich am besten am Beispiel erklären. Als Grundlage dient in diesem Fall der Beitrag „Die politische Theorie der Dekonstruktion“ von Thorsten Bonacker.

Bonacker beginnt seine Übersicht über das politische Denken Jaques Derridas mit der Spekulation über seinen Ursprung in der Nacht der Barrikaden im Paris des 12. Mai 1968. An diesem Tag beginnt Derridas Auseinandersetzung mit dem Wesen des Politischen mit dem Text „Les fins de l´homme“, in dem er die Gültigkeit der Formen der „Politik“ und der „Gesellschaft“  als natürliche Ordnung des Menschen, und damit die Demokratie als „Endziel des Politischen“ in Frage stellt.

Derrida zeigt, wie die Theorie der Politik/des Politischen/der Demokratie seit der Antike mit einem Paradox behaftet sind: Sie sind Reaktionen auf die Erfahrungen der Unentscheidbarkeit im Politischen. Sie reagieren in der Form, dass sie sich selbst als die Form der Entscheidungsfindung darstellen, die dem Wesen des Menschen entspricht und in letzter Instanz, also in der gereiften Demokratie, somit das Endziel der Menschen darstellen müssen und zur perfekten Entscheidbarkeit führen – und somit aber zu ihrer eigenen Auflösung. Der Politik liegt also entweder  ihr eigenes Scheitern zugrunde – oder ihre Selbstauflösung.

Derrida aber, entgegen der häufigen anzutreffenden Meinungen, macht nicht den Fehler, das Konstrukt der Politik nun einfach über Bord werfen zu wollen. Stattdessen nimmt er sich dieses Paradox als die Grundbedingung der Demokratie an und, stößt darauf, dass ihm die Gesellschaft nicht gerecht wird, sondern sich, über alle Maßen, in der Illusion der Entscheidbarkeit durch die Politik verliert und die grundlegende Unentscheidbarkeit des Politischen vergisst, indem sie sich in Formalismen, Werten, Dialektiken und Wahrheiten einrichtet. Daher Derridas Methode der Dekonstruktion:

Die Dekonstruktion ist zunächst ein Aufbrechen der traditionellen Dialektiken: Natur/Kultur, Mensch/Tier, Mann/Frau usw. denen jeweils paradoxe Einheit zugrunde liegt, und deren prinzipielle Unentscheidbarkeit immer wieder auf einer Seite der Unterscheidungen auftauchen muss. Z.B. taucht die Unterscheidung Mann/Frau – so könnte man mit dieser Logik zumindest unterstellen – insofern in sich selbst auf, als dass es historisch die Männer sind, die diese Unterscheidung setzen, und – man verzeihe die Plattheit – selbst davon profitieren. Damit allein ist der Unterscheidung noch nicht vollständig die Legitimität entzogen – allerdings doch soweit, dass sich diese Legitimität nicht aus einer Wahrheit ableiten lässt, sondern hergestellt ist, und somit auch Gestaltbar. Diese Gestaltbarkeit aber wird in wirklich fundierter Form nur dadurch wieder sichtbar, dass die Opposition Mann/Frau radikal in Frage gestellt und anschließend theoretisch, ästhetisch oder praktisch auseinandergenommen – dekonstruiert wird. Dieses Aufbrechen selbst erfolgt dabei zunächst noch wertfrei: Derrida zeigt auf logisch-formalem Weg, dass sich die traditionellen Oppositionen schlicht und ergreifend logisch nicht halten lassen, er – wenn man es so martialisch ausdrücken will – schlägt die Tradition mit ihren eigenen Waffen.

Damit Hand in Hand geht allerdings zweitens auch die Infragestellung der Werte, einfach weil diese am auf den nun ins Wanken geratenen Oppositionen gebaut sind. Zum Beispiel das moralisch begabte politische Subjekt wird schwer denkbar, wenn die Dialektik aus Subjekt und Objekt auf ihre paradoxe Einheit hingewiesen wird. Und auch die patriarchalen Gesellschaftsformen mit klaren Rollenverteilungen im Haushalt bekommen Probleme, wenn die Unterscheidung in Mann/Frau ihre Eindeutigkeit verliert.

Die Dekonstruktion vereint also Logik und formales Denken mit Genealogie und Anamnese. Das zeigt sich auch in den 3 hauptsächlichen Richtungen von Derridas politischem Denken: Der Theorie (die sich primär auf Logik und formales Denken stützt), der Ästhetik (die genealogische und anamnetische Arten der Literaturlektüre praktiziert) und der Praxis (die nach den Konsequenzen fragt, die dies alles für die tatsächliche Politik haben kann, haben will und haben muss). Und aus diesem Bereich der Praxis wird sich uns erschließen, warum die Dekonstruktion der Demokratie zu einem Muss wird.

Der Politik liegt, wir wiederholen, das Paradox zugrunde, scheitern zu müssen. Die Entscheidbarkeit der Politik muss an der prinzipiellen Unentscheidbarkeit des Politischen scheitern, oder sie wird sich selbst auflösen. Die Unentscheidbarkeit und das Scheitern sind aber beide, obwohl/weil sie zur Grundbedingung der Politik gehören, keine Akzeptablen Kategorien der Politik. Die Politik – und das gilt insbesondere für die Demokratie -darf nicht scheitern, sie kann es sich nicht erlauben. Es ist ihr aus Prinzip verboten. Deshalb aber beginnt sie, ihr unvermeidliches Scheitern zu vertuschen. Sie beginnt, so zu tun, als würde sie nicht scheitern – tötet damit, langsam und leise, ihren Ursprung, die kleine Differenz, der sie ihr Dasein verdankt, und verabsolutiert sich selbst. Sie erzeugt demokratisch, also auf dem Grund dieser verborgenen Bedingungen, also latent, ihre eigene Verbergung, ihre eigene Selbsttranszendenz, ihre eigene Latenz. Es ist diese latente Herstellung von Latenz, die uns sogleich noch Sorgen machen wird.

Für Derrida selbst ist dies noch nicht das größte Problem: Er ist Demokrat und sagt folgerichtig: „Die Unhintergehbarkeit der Selbsttranszendenz als Vorbedingung für Entscheidungen meint somit die Unabweisbarkeit der Demokratie, denn nur wenn Entscheidungen von ihrer Unentscheidbarkeit eingeholt werden, ist Demokratie möglich.“

Derrida stützt also die Demokratie, weil nur in ihr die Entscheidungen der Politik von ihrer prinzipiellen Unentscheidbarkeit im Politischen eingeholt werden können. Es gibt aber eine Entwicklung, die Derrida so noch nicht betrachtet hat: Wenn nun die These zutrifft, dass die Politik – und im Besonderen die Demokratie, (aus strukturellen Gründen? aus ideologischen Gründen? aus Gründen der Kultur?) dazu tendieren, ihr Scheitern zu verwischen, und somit die prinzipielle Unentscheidbarkeit ihrer Entscheidungen eben gerade nicht zuzulassen, d.h. Latenz selbst latent zu bestimmen – dann entsteht eine Hegemonie der Demokratie, die sich selbst unaufhaltsam ad absurdum führt. Die Dekonstruktion der Demokratie, die sich selbst als die eine Seite setzt, von der alle anderen Seiten aller Dialektiken gedacht werden, wird dann zu einem Muss, weil dieser Hegemonie und der Entropie allen Denkens nur auf diese Weise noch entgegengetreten werden kann.

Die These ist nun, dass diese Phase der absoluten Selbsttranszendenz und Hegemonie der Demokratie schon in ihren Anfängen begriffen ist. Wo Indizien dafür zu suchen sind, wird im nächsten Teil behandelt.


Die Oberflächen des Retro

Katrin Kruse diskutiert auf Spiegel Online die Frage nach Authentizität in Welt der Retromode. Doch der Schlußpunkt hinter dem Trend kommt, wenn auch nicht unüberlegt, zu früh.

Kruse bestimmt den Paradigmenwechsel von „second hand“ nach „vintage“ präzise als neue Form der Produktion von Authentizität in der persönlichen Selbstdarstellung. Präzise, doch nur in eine Richtung. Denn in die andere Richtung muss gefragt werden, wie und warum dieser Wunsch nach Authentizität, der Wunsch nach Persönlichkeit in der Modekultur aufgekommen ist und was er zu bedeuten hat. Und gerade über diese interessanteste Stelle wird allzu schnell hinweggegangen. Der Drang zur Individualität sei eine „Gegenreaktion“, ein „fatales Missverständnis“ gewesen, wird hier zitiert. Man sei ja nur „von einem Extrem ins andere gefallen“, und es würde sich dabei um ein „strukturelles Problem“ handeln. Strukturell meint hier wohl, als internes Problem der eigenen Logik der Mode. Und gemäß dieser Logik würde er auch wieder verschwinden. Das ist soweit alles an der Oberfläche beobachtbar und richtig, nur verweist es auf ein tiefer liegendes kulturelles Problem. Und ohne diesen Verweis kratzt man eben auch nur an der Oberfläche der Kultur, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Natürlich ist Authentizität zum Teil nur ein Trend, der genauso vermarktet wird, und natürlich ist „Retro“ die beste und einfachste Art, Authentizität durch bezug auf Vergangenes herzustellen. Soweit nichts besonderes.Viel interessanter aber ist die Frage, was der Retrotrend, und die Lücke der Geschichte, die er aufreißt, wirklich bedeuten. Warum wollen wir überall den Look von Vorgestern und die Technik von Heute? Was ist es an dem Gestern, das alle so furchtbar finden? Warum scheinen die 80er und 90er in jeder Hinsicht so schlimm, dass die meisten Leute sie am liebsten für immer aus ihrem Gedächtnis löschen wollen? Gemäß der Logik des Artikels müsste man sagen: Nichts, alles nur Logik der Mode, in 10 Jahren grenzen wir uns einfach wieder von etwas anderem ab.

Aber einfach nur zu sagen, dass auch die Retro-Welt nur ein Trend war, der nach einem eher allgemeinen Bewegungsgesetz kam und ging, scheint zu eifnach. Der Zusammenhang mit anderen Bereichen (eben gerade der Massenproduktion und dem auch damals schon vorhandenen sublimen Kulturtotalitarismus) drängt sich ja geradezu auf. Indem der Frau Kruse das eher als vorrübergehenden Trend darstellt, verstrickt er sich in der Oberflächlichkeit, die natürlich jedem Modetrend zu eigen ist, und verkennt die Möglichkeiten, die in seiner Analyse liegen können.


Die Linke und ihr Richtungsstreit

Die Linkspartei bekämpft ihre internen Querelen – doch gerade dort liegt zwar nicht ihr einziges, aber doch ihr größtes subversives Potential verborgen.

Die Linke wähnt sich im Patt: Ihr linker Flügel kann und will die Staatsordnung, so wie sie ist, nicht akzeptieren, und möchte daher die demokratischen Institutionen benutzen und gegen sich selbst kehren. Ihr rechter Flügel möchte sich als dauerhaft wählbare Volkspartei etablieren, und das System durch die Eroberung eines Teils der demokratischen Macht reformieren.

So oder so, lässt man einmal die Frage, welche der beiden Seiten die richtigere ist, beiseite, wird man zunächst zugeben müssen, dass es im Moment vor allem die Linke selbst ist, die zum Objekt ihrer eigenen Machtübernahme wird, nämlich immer dann, wenn sie nach den Macht-Worten ihrer Parteigranden lechzt, die die Partei wieder auf eine Linie einschwören sollen.

Das übrigens ist eine Eigenschaft, die allen Parteien zu eigen ist. Zum Beispiel in der momentan schwer um Glaubwürdigkeit rudernden FDP, auf deren letztem Parteitag der alte liberale Avant-Grande Westerwelle erneut schwer beschädigt wurde und der neue starke Mann Rösler seine Größe zeigen musste, um endlich (ja man konnte es wirklich kaum erwarten), die Personalstreitigkeiten zu beenden und endlich wieder beim Wähler punkten zu können. Doch warum müssen Parteistreitigkeiten immer gelöst werden? Welches Ideal von Politik liegt diesem Wunsch nach Authentizität zugrunde?

Es ist das Bild vom Helden, die Vorstellung vom Alliierten Soldaten, der , ohne lange nachzudenken, über die Mauer in den Kugelhagel hüpft und sich seinem Feind entgegen wirft. Einer, der die Probleme anpackt, dem es wirklich um die Sache geht, der sich nicht lange mit den nur internen Streitereien aufhält. Seine Mitkämpfer schätzen ihn, seine Vorgesetzten sind brüskiert über seine unüberlegten Methoden, aber, verdammt nochmal, er erledigt den Job und sie folgen ihm, und am Ende des Tages ist der Kampf gewonnen und das politische Problem gelöst. Es ist eine romantische Vorstellung, doch man kommt kaum umhin, diese Beobachtung zu machen, wenn man sich die diversen Richtungsstreits der (nicht nur deutschen) Parteienlandschaft ansieht.

Doch was heißt eigentlich wählbar? Was heißt Glaubwürdigkeit, was ist schon Authentizität? Was tut man, wenn man Probleme anpackt? Was bedeutet es, beim Wähler zu punkten und um was geht es einem Politiker denn, dem es rein um die Sache geht? Diese Floskeln (mehr als Floskeln sind sie nicht, aber eben auch nicht weniger) haben alle einen gemeinsamen Grundgedanken: Man bringt damit zum Ausdruck, dass es irgendwo da draußen die ideale Politik gibt, eine gute Linie, ein perfektes Parteiprogramm und die richtige Richtung, die es nur noch zu finden gilt. Es ist die Hoffnung, dass dieses Richtige, das wir alle tun wollen, auch tatsächlich existiert. Und natürlich ist es schwierig, dieses Richtige zu finden und zu tun; es wird Streits geben, ja, aber am Ende, ja am Ende, da muss man zurückblicken können und das Richtige getan haben. Doch diese Vorstellung ist vergangen, es ist ein Idealismus, der schon seit Jahrhunderten mal mehr, mal weniger Beachtung findet aber noch niemals funktioniert hat. Und auch heute bröckelt dieses Bild und führt vermehrt zu genau dem Typus politischer Farce, mit dem wir es fast täglich zu tun haben: Parteigrößen, die keinerlei Ahnung von dem haben, was sie tun, stellen sich vor das Mikrofon und beteuern, es ginge ihnen rein um die Sache, während am Nachbarpodium eine nicht ganz so große Parteigröße ebenfalls keine Ahnung hat, aber feierlich erklärt, dass die Partei selbstverständlich hinter der Linie des Ministers steht. Das ist, im positiven und im negativen Sinne, Demokratie. Und das ist nicht falsch zu verstehen, denn das ist tatsächlich schon für sich eine nicht zu unterschätzende Leistung. Eine solche Authentizität herzustellen, ist sehr schwierig, und zweifelsohne wird durch den Prozess, der durch diese Konstruktion von authentischen Sprechern in Gang kommt, tatsächlich eine Offenheit und Gestaltbarkeit erzeugt, wie es sie bisher nur in Demokratien gegeben hat. Allerdings muss man beide Seiten sehen und das doppelte Verhältnis, indem sie stehen: Gestaltbarkeit durch Ahnungslosigkeit, Offenheit durch Geschlossenheit, das heißt zunächst einmal: Offenheit und Gestaltbarkeit; aber eben auch nur um den Preis von Heuchelei und Exklusivität.

Doch was heißt das nun für die Parteien? Was heißt das insbesondere für die Linke? Es erscheint so: Die Linke ist gar nicht im Patt – sie ist im Gegenteil in einer luxuriösen Position, einerseits Fundamentalopposition, andererseits Reformismus nicht nur gegeneinander abwägen zu wollen, sondern sie muss beide Seiten immer gleichzeitig mitdenken, sie muss ihre Inhalte und Ihre eigene Position (die mit Recht zu den ihren Inhalten gehört) immer gleichzeitig zur Debatte stellen. Und das ist in der Tat die vorzüglichste und interessanteste Position, in der man sich auf dem Feld der deutschen Politik im Moment befinden kann. Die Linke täte mehr als gut daran, diese Spannung zu kultivieren, statt sie zu unterdrücken.

Der mittlerweile mehr als überstrapazierte Vergleich der Linkspartei mit den jungen Grünen kann an dieser Stelle weitgehend eingespart werden, nur soviel: Man könnte mit Recht behaupten, dass es genau das war, was die Grünen einst zu einer so populären Bewegung gemacht hat. Auch sie haben zu Anfang genau mit diesen Fragen gerungen und sind daran gewachsen. Jetzt sind sie zwar gerade auf dem politischen Hoch, aber schon geht der Trend schon wieder von ihnen Weg, eben weil sie diese Fragen und Spannungen gelöst und beiseite geschoben haben, und sich mit großem Eifer in die Reihe der Wählbaren eingereiht haben.

Man könnte den Gedanken weiterspinnen und behaupten, dass das nicht nur eine mögliche, sondern eine absolut notwendige Perspektive linker Politik ist. Warum ist das so? Wir haben gesehen, dass das Modell von der Einheit der Parteilinie auf einer gestrigen Vorstellung von Politik beruht, die obendrein auch noch gefährlich ist, indem sie an Heldentum und „Frontsau“-Charaktere anknüpft. Angenommen, der linke Flügel der Linkspartei würde sich durchsetzen und sein Inhalte als Parteilinie durchsetzen – dann wäre die Partei wieder nur auf der gleichen, demokratischen – oder nennen wir es besser: idealistischen – Linie, und damit eben auch keine Fundamentalopposition mehr, so sehr sie es auch sein möchte.

Die Linkspartei stellt – wiederum, wie wir gesehen haben, mit Recht – die Frage nach der Demokratie. Nur, sie darf nicht den Fehler machen, schon im vornherein zu wissen, was die Demokratie ist und wie man sich zu ihr positionieren sollte. Es gibt keine richtige Position zu Demokratie (wie übrigens zu keiner Frage), sondern immer nur genau die Positionen, die eben geäußert werden. Und das ist übrigens eine Lektion, die uns die Demokratie selbst gelehrt hat und für die wir ihr auch dankbar sein dürfen. Das ist die Form von Gestaltbarkeit durch Ahnungslosigkeit. Aber noch viel weniger als den Fehler, alles im vorn herein zu wissen, sollte sich die Linkspartei nicht dahinter verstecken dürfen, sich an einer irgendwie gearteten Suche nach der richtigen Position beteiligen zu wollen. Denn das ist ebenfalls eine genuin demokratische Tugend, dass man seine eigene Meinung, die man nicht mehr hinterfragt, in einen Prozess verpackt, der nach außen hin gestaltbar und offen aussieht, während man schon vorher genau weiß, welches Ergebnis dabei herauskommen wird. Das ist der Preis der Exklusivität und Heuchelei. Eine Partei, die sich radikal oppositionelle Perspektiven offen halten will, muss also sowohl ihre berechtigte Ahnungslosigkeit als auch die Partikularität ihrer eigenen Meinungen intern und extern anerkennen und außerdem akzeptieren, dass sie ihre Stellungnahmen niemals auf eine universale Wahrheit rückkoppeln können wird.

Aber wie funktioniert nun diese Fundamentalopposition in der Praxis? Zuerst wäre es ein unumgänglicher Schritt, damit aufzuhören, Parteistreitigkeiten einzuebnen. Man muss den politischen Streit kultivieren – und wenn das dazu führt, dass man in wichtigen Fragen keine Antwort findet, sondern nur mehrere Versionen von Antworten, dann ist das eben so. Das wäre auf jeden Fall eine sehr viel angenehmere und angemessenere Geste als all der Einheits-Brei (im doppelten Sinne), den die Politik sonst zu bieten hat. Eine Partei, die sich intern zerstreitet und ständig fast auseinander fällt ist viel interessanter als eine gefestigte, etablierte Partei, die auf alles sofort eine Stellungnahme parat hat und sich für keine noch so heuchlerische Breitseite zu schade ist. Eine Partei, die offen zu gibt, keine Ahnung zu haben, keine einfachen Antworten auf die Probleme zu liefern – die beispielsweise in der Frage um den Nahostkonflikt beide Seiten zulässt, ohne in Antisemitismus oder Israel-Apologie zu versinken (und sich schon gar nicht für eine Seite entscheidet) und die eingesteht, schlicht und einfach nicht zu wissen, wer Qaddhafi eigentlich ist und warum wir seit Monaten Krieg mit ihm führen – gerade eine solche Partei ist wählbar – eben weil nur dies überhaupt noch eine Wahl zulässt, deren Ergebnis nicht schon lange fest steht. Und nicht nur wäre sie wählbar, sondern auch höchstgradig subversiv, indem sie die Logik des repräsentativ-demokratischen Systems an der Wurzel, nämlich dem Grundgedanken der adäquaten Repräsentation, erschüttert.

Die Linkspartei stellt das System in Frage. Doch sie kann das nur auf doppelte Weise: Auf dem Boden der Verhältnisse und gleichzeitig in radikaler Opposition. Gerade und vor allem auf diese Untrennbarkeit kommt es an, die sich nicht auflösen lässt, die man aushalten muss, der man aber auch erliegen können muss, der gegenüber man manchmal klein beigeben muss, die einem manchmal nicht erlaubt, Stellung zu nehmen und verhindert, eine Antwort zu haben; das ist die Systemopposition, die so dringend fehlt und die im Moment eigentlich nur von der Linken ausgefüllt werden kann – sofern sie das denn will. Die Linke stellt das demokratische System in Frage, und deshalb muss sie die Funktionen des Systems vorwegnehmend anders lagern und aufheben – und wo, wenn nicht in sich selbst? Nur eine Partei, die nahe an ihrer eigenen Subversion steht, kann subversiv gegen das System vorgehen; nur eine Partei, die bereit ist, sich selbst zu verraten, kann das System verraten. Und nur eine Partei, die an der Klippe ihrer eigenen permanenten Revolution steht, kann die Revolution erreichen.


Wissenschaft und Leitkultur

Die moderne Sozialwissenschaft hat kaum den Mut, wirklich kritisch zu sein – Und der Teufel steckt schon in der Methode.

Die Transformationsforschung der komparativen Politikwissenschaft begreift die Verwandlung der ehemaligen Sowjetunion in der Hauptsache als Modernisierung. Repräsentative, parlamentarische Demokratien und Marktwirtschaften mit sozialen Ausgleichsmechanismen galten lange Zeit für die westlichen Analytiker als die Idealbilder, denen sich diese Staaten zwangsläufig -weil alternativlos- annähern würden. Die Transformation muss sich bis heute an diesen Idealbildern messen lassen und vielerorts klappt das auch gut. Auf der anderen Seite jedoch gibt es diejenigen Staaten, die nicht die vorgezeichneten Etappen durchlaufen und keinerlei Anstalten machen, mittel- oder  auch nur langfristig „echte“ Demokratien oder „echte“ Marktwirtschaften zu werden.

Die Vergleichende Sozialwissenschaft betrachtet dies meist als Verzögerung oder Scheitern. Sie spricht z.B. von „defekten Demokratien“ oder „failed states“, „kriminellem Kapitalismus“ oder gelenktem Staatskapitalismus“, kurz von „unfinished transformation“. Die Grundannahme von Demokratisierung und Einführung von Marktwirtschaft bleibt dabei aber immer gleich. Allerdings lassen sich die Empirien in vielen Fällen immer weniger damit in Einklang bringen. In manchen Bereichen ist nämlich empirisch ein genau umgekehrter Trend zu beobachten, nämlich dass sich die klassischen alten Demokratien in manchen Eigenschaften eher den jungen Staaten annähern, als dem westlichen Vorbild nachzueifern.

Am deutlichsten ist das bisher in der Parteienforschung zu beobachten. Dort werden verschiedene Parteitypen unterschieden, v.a. klassische Massen- oder Volksparteien einerseits und modernere Kartell-, Clientel- oder Medienkommunikationsparteien andererseits. Erstere sind dabei typisch für die alten Demokratien, letztere eher in den neuen Republiken anzutreffen. Die neuen Parteitypen zeichnen sich durch nur sehr wenig ausgeprägte Ideologie, eher kleine und sehr professionalisierte Mitarbeiterstäbe, sehr wenige Parteimitglieder und durch stark von Parteispitzen gesteuerte Inhalte aus – also durch Merkmale, die gerade nicht den klassischen Theorien entsprechen, in denen die Demokratie doch gerade erst durch die Beteiligung des Volkes leben soll, das durch sie die Herrschaft über sich selbst ausübt. Allerdings zeigt sich, dass sich auch die etablierten Demokratien immer weiter von diesem Idealbild weg entwickeln: Die „Politikverdrossenheit“ wächst überall, die Wahlbeteiligungen sinken, die Machtlosigkeit der politischen Systeme gegenüber den großen Wirtschaftskrisen wird größer. Als Konsequenz verlieren viele der europäischen Volksparteien seit langem kontinuierlich Mitglieder, besetzen wichtige Positionen mit „Experten“, denen es professionell „um die Sache“ gehen soll und rücken immer enger in der ideologischen „Mitte“ zusammen. Und das als Endergebnis oft doch immer die gleiche, an „Sachzwängen“ orientierte Politik herauskommt, ganz egal, ob die Mehrheiten bei Rot, Schwarz, Grün oder Gelb, Orange oder Blau liegt, ist schon lange mehr als nur verbittertes Gerede.

„Weniger Demokratie wagen?“

Das könnte man jetzt skandalisieren – oder aber beobachten, dass die Bevölkerungen der neuen Demokratien – nüchtern betrachtet- ja eigentlich viel vernünftiger mit dem Phänomen umgehen: Sie stellen von vornherein nicht zu große Erwartungen an die Politik, die von einer Demokratie möglicherweise sowieso nicht erfüllt werden können. Sie erwarten nicht, dass die Politik die Marktwirtschaft reguliert und sozial verträglich macht – denn sie wissen, dass viele der Politiker überhaupt erst durch große Konzerne und Mogule an die Macht gehievt werden, die keinerlei Interesse an einer solchen Regulierung haben können. Sie stellen nicht erst den Anspruch, dass ihnen ein „echtes“ parlamentarisches System die Möglichkeit zur Entscheidung vorspielt. Und man sollte sich nicht vorschnell annehmen, dass diese Indifferenz bzw. der Mangel an demokratischer Emphase nur auf Unterdrückung basiert. Vielen dieser Länder geht es nämlich in erster Linie zuerst um ein wirtschaftliches Aufholen, welches, so könnte man interpretieren, wohl am besten mit weniger Demokratie organisierbar ist. Und so kommt es immer zu Missverständnissen, wenn sich alte und neue Demokratien gegenseitig beobachten: Als in Russland kürzlich die Gerichte die Haftstrafen gegen den radikalen Nomenlaturakapitalisten Michail Chodorkowsi bekräftigt haben, wurde im Westen mit dem demokratischen Zeigefinger gewackelt, während die russische Bevölkerung selbst sich erleichtert zeigt, dass nun „endlich“ die Verbrecher der Umbruchszeit belangt werden. Und dabei scheint es sich eben nicht um ein triviales Problem, sondern um tatsächliche Inkommensurabilitäten zu handeln.

Was kann man nun daraus für den Kapitalismusbegriff lernen? Vor allem, dass Kapitalismus nicht als geschlossenes System zu verstehen ist. Man kann nicht auf dem Punkt stehen bleiben, unterschiedliche Funktionsbereiche der Gesellschaft analytisch zu trennen und quasi austauschbar und kombinierbar nebeneinander zu stellen. Kapitalismus kann heute nicht mehr nur als evolutionäre Wahl verstanden werden, wie es vielleicht sein „natürlicher“ Sieg über den Realsozialismus nahegelegt hat. Kapitalismus muss heute zusammen mit Demokratie als kulturelle Wahl verstanden werden, die auch anders verlaufen KÖNNTE. Und gerade die Auseinandersetzung mit dem postkommunistischen Raum zeigt, dass der Begriff Kapitalismus eben nicht jeden (sei es realen oder gespenstisch-hypothetischen) Gegenbegriff und damit jeden analytischen Wert verloren hat, sondern dass jetzt endlich die Möglichkeit da ist, die Einheit der Unterscheidung zu sehen und die kulturelle Basis zu identifizieren, auf denen beide Systeme gleichermaßen aufbauen. Es ist nämlich gar nicht eine Systemalternative, auf die eine Kritik abzielen muss – sondern eine Kulturalternative. Kritik kann heute nur noch als Kulturkritik formuliert werden. Und die Soziologie sollte über dieser Entwicklung nicht verzweifeln, sondern sich im Gegenteil darüber freuen, dass nicht mehr alles von der Systemfrage überspielt wird. Und wie das bei kulturellen Fragen eben so ist, muss sie dafür akzeptieren, für normative Fragen einmal wirklich offen zu sein – also auch westliche Vernunftprinzipien einmal über Bord zu werfen.

Das scheint aber der Wissenschaft selbst unheimlich zu werden. Auch die Soziologie und all ihre Mutterdisziplinen reagieren sehr empfindlich, wenn man die Grenzen zwischen wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Disziplinen streift – Gerade weil sie sich ständig diesen vermeintlichen Angriffen ausgesetzt sehen. Aber welcher noch so krititsche Student hat denn schon einmal eine Zeichnung an Stelle eines Essays eingereicht, oder statt einer analytischen Hausarbeit ein Gedicht oder ein Theaterstück abgegeben? Da geht jede echte Kritik den Bach herunter.


Dagegen

gegen Pay-TV und Werbung
gegen Endemol-Verklärung
gegen Casting-Agenturen
gegen Schlager und die Puren
gegen Leute ohne Meinung
gegen jegliche Erscheinung
gegen alles gegen jeden
ich bin absolut dagegen

gegen frischgehaltnen Hohn
gegen Skinheads ohne Anstand
gegen Regeln die nichts regeln
gegen Schwestern die nicht pflegen
gegen Menschen die verwalten
gegen Spalter die nicht schalten
Ich bin einfach gegen alles
auch im Falle eines Falles

gegen Sicherheitsfanatik,
gegen brav und gegen artig,
gegen Bonzen die nicht teilen,
gegen Ärzte die nicht heilen
gegen funktionelle Bürger
gegen Henker gegen Würger
ich bin grundsätzlich dagegen
ich verweigere den segen,

gegen flache Plattitüden,
gegen Norden gegen Süden,
gegen atomare Rüstung
gegen Frauen ohne Brüstung,
gegen Mobbing und Schikane
gegen Wehrdienst für die Fahne
ich bin kontra aus Prinzip
und selbst gegen dieses lied

Die Einheit der Unterscheidung

Die vergleichende Politikwissenschaft steht unter dem Stern eines starren Eurozentrismus. Sie reflektiert einen westlichen Normalzustand von repräsentativer Demokratie, den sie als Meßlatte und absoluten Maßstab ansetzt, wenn sie sich der Analyse von „anderen“ politischen Systemen widmet, also beispielsweise der Staaten aus dem postkummunistischen Raum oder den südamerikanischen Ländern.

Dabei gibt sie sich normativ vollkommen neutral und klemmt sich ganz nah an den empirischen Fall. Dazu entwirft  sich die Disziplin ihrer eigenen Theorien,  die bestimmte politische Bewegungsgesetze abbilden sollen. Wohlgemerkt, politische Bewegungsgesetzte, so wie in „nicht-wirtschaftliche“ und „nicht-gesellschaftliche“ oder „nicht-künstlerische“ Gesetze.

Vor allem in der vergleichenden Parteien- und Parteiensystemforschung wird das besonders deutlich. Sie setzt sich selbst einen ganz besonders engen Rahmen und blendet soziale Realitäten weitgehend aus. Einerseits hängt sie normativ nur lose in der Luft: So theoretisiert beispielsweise die Unterscheidung verschiedener Typen von politischen Parteien aus, und formuliert verschiedene Entwicklungsgesetze von einem Parteityp in den anderen. Sie sagt dabei nicht das geringste über die sozialen Realitäten aus, die mit diesen Entwicklungen verknüpft sind.  Beispielsweise die Entwicklung des primären Parteientypus von traditionellen Massenparteien hin zu sogenannten Volksparteien hin zu funktionsorientierten Medienparteien wird in der vergleichenden Systemforschung nicht im Hinblick auf gesellschaftliche Evolutionen oder gar aus  funktionalistischer Perspektive reflektiert, sondern als bloßes Bewegungsgesetz.

Andererseits -nachdem sie sich auf diese Weise Neutralität auf die Fahnen geschrieben hat- zehrt die Disziplin aber umso mehr von einer extremen normativen Voreingenommenheit. Ihre Theorien sind um eine zentrale Vorstellung von westlicher, repräsentativer Demokratie herum gebaut. Diese arbeiten im wesentlichen mit der Unterscheidung von demokratischen und davon abweichenden Systemzuständen. So wird oft zwischen „echten“ und „defekten“ Demokratien unterschieden und das demokratische Ideal als selbst kaum hinterfragte Zieldimension vorangestellt. So unterteilt z.B. eine der wichtigsten Arbeiten zur Parteiensystemforschung ihr Forschungsfeld nach Anzahl der systemrelevanten Parteien und nach ideologischer Polarisierung des Parteienwettbewerbs.  Den linken Rand in dem so aufgespannten Spektrum bilden dabei die undemokratischen, stark ideologisierten Einheitsparteiensysteme beispielsweise von Kuba, der DDR oder der UdSSR. Am rechten Rand finden sich die atomisierten Vielparteiensysteme der Weimarer Republik, von Serbien oder Israel, deren Merkmal ebenfalls eine große ideologische Spannweite und undemokratische Defizite sind. Nur in der Mitte finden sich demnach „echte Demokratien“, wie die BRD oder die USA. Implizit steckt darin die Vorstellung, dass sich eine echte Demokratie also  durch einen höchstens gemäßigten ideologischen Pluralismus (bzw. überhaupt nur eine gemäßigte Ideologie)  leisten kann und darf, und nur durch selbstdisziplinatorische Konzentration (bzw. Streckung und die Diversifizierung) dieser Ideologie(en) auf eine bestimmte Anzahl an Parteien eine „richtige“ politische Ordnung gewährleistet ist.

Es soll hier nicht unterstellt werden, es handele sich dabei um eine bewusste, oder gar verschwörerische Prädisposition der westlichen Politikwissenschaft,  sich mit vollem Eifer nur damit zu beschäftigen, gute Gründe  für die Oktroyierung von westlicher Demokratie auf die ganze Welt zu produzieren. Das wäre natürlich ein überzogener Vorwurf. Aber gerade das Unterschwellige und die eklatante Selbstverständlichkeit, mit der bestimmte normative Grundannahmen in der vergleichenden Systemforschung mitschwingen, lässt die Wissenschaft an bestimmten Punkten auf der Stelle treten.

Die Wissenschaft bleibt dabei aber systematisch blind für den Grad ihrer Voreingenommenheit. Dadurch, dass die Theorieproduktion, also die zugrundeliegenden Denkgebäude, auf die Soziologie und den sogenannten „Bereich Politische Theorie“ quasi ausgelagert werden, wird Theorie und Empirie institutionell voneinander getrennt. Die Vergleichende Politikwissenschaft produziert zwar auch weiterhin eigene Theorien – die sind zwar oft sehr pfiffig und intelligent, gehen aufgrund dieser Trennung aber nie über den mitschwingenden westlich-demokratischen Grundkonsens hinaus. Sie sehen nicht die Einheit der Unterscheidungen, mit denen sie operieren. Sie sehen nicht das „ganz andere“ der Demokratie, sie werfen keinen Blick auf die unbeleuchtete Seite denkbarer politischer Systeme. Ihr Sichtbereich endet links an der idealen Demokratie und rechts an der idealen Diktatur. Darüberhinaus kann sie nicht denken. Das ist nicht gut und wird sich rächen. Spätestens wenn das berühmte Fukuyama-Diktum (die repräsentative Demokratie sei das „Ende der Geschichte“) ernstlich ins Wanken gerät (also sobald sich das empirische Ausbleiben dieser Voraussage sich nicht mehr  plausibel nur als „Verzögerung“ interpretieren lässt), wird auch die Vergleichende Systemforschung sich wieder damit beschäftigen müssen. Umso früher sie daher ihre Professionalität (=Rationalität, Eingeschränktheit, Konzentriertheit) fallen lässt und auch das „ganz andere“ einmal in sich zulässt, ohne alles als Metaphysik zu belächeln, desto besser.


Finde den Fehler

Bürokrat – Technokrat – Ethikrat – Autokrat


Generationen

Mir ist neulich was aufgefallen als ich mit meiner Großmutter telefoniert habe.

Wir haben uns über ihre Jugend unterhalten und ich hab irgendwann gemeint: „Was, echt? So habt ihr gelebt? Das habt ihr gemacht? Wie kamt ihr denn auf diese furchtbaren Ideen?“

Und dann habe ich daran gedacht dass, wenn ich mal alt bin, die dann junge Generation auch mich über das Leben im Jahr 2010 ausfragen wird und dann sagt: „Was echt? So habt ihr gelebt? Ihr habt ja einen Schatten!“


Jean Ziegler – Die Befreiung der Freiheit im Menschen

Live aus dem besetzten Audimax Wien

Im Interview bei Die Zeit


Das Anti Antideutsche Lied

Nicht missverstehen: http://de.wikipedia.org/wiki/Antideutsche

Und alle streiten sich, wer jetzt hier eigentlich die Reaktion ist.


Mitte-Links

Der Bürgermeister der Gemeinde Lalendorf (Linke)  in Meck-Pom steht unter Druck: Seit seiner Weigerung, eine Ehrenpatenschaft des Bundespräsidenten für das siebte Kind einer Rechtsextremen Familie zu überreichen, macht die lokale Neonazi-Szene gegen ihn mobil. Sein Haus steht nach Übergriffen mittlerweile unter Polizeischutz.  Allerdings steht die Entscheidung des Bürgermeisters von politischen Stimmen aller Couleur in Kritik.

So fragen die Leute z.B. durchaus ernst in der Kommentarabteilung des antifaschistischen Zeit-Blogs „Störungsmelder“ danach, ob es denn nicht „fies [ist] der Familie nicht für das 7te Kind persönlich zu gratulieren. Was wäre denn passiert wenn er vorbeigekommen wäre und die gemerkt hätten oH gar nicht so schlimm und die Linken, evtl sollten wir mal drüber nachdenken ob wir auf der richtigen Seite stehen?!“ Die Überreichung der Urkunde hätte also eine „Brücke“ darstellen können.

Und da frage ich mich meinerseits doch, in meiner hin und wieder der Thematik angemessen auch mal nonchalanten Art…

….. Was soll denn das für eine patriarchale, feudalistische Reserve-Kaiser-Scheiße sein, dass der Bundespräsident einer Familie für ein Kind gratulieren soll? Was soll da dran denn eine „Brücke“ sein? Hackts denn eigentlich?
Das ist genau dieser Müll: „jaa Nazis sind ja nur Nazis weil sie in nem schlechten Umfeld aufgewachsen sind usw., mit bisschen Förderung und Liebe kann man die wieder schon zurück in die Mitte holen.“ Ganz klasse, als ob die bürgerliche Mitte irgendwas zu bieten hätte. Und dann wird auch wieder an die Polizei appelliert und lustig weiter dreht sich die bürgerliche Gesellschaft und lässt ihre kleinen politischen Extreme um sich herumtanzen wie die Maibaumtänzer.

Und wer dieses Argument so macht wäre dann auch umgekehrt nicht weit davon dass „Sozialisten nur Sozialisten sind weil sie eben aus armen Verhältnissen kommen und was vom Kuchen stehlen wollen, der ihnen nicht zusteht.“

Null Toleranz für Nazis, ja, aber auch null Toleranz für den gutbürgerlichen Normalzustand, auf den sich alle (auch Die Linke) immer genau dann beziehen, wenn es gerade wieder um Nazis geht.

Das heißt Opportunismus und ist eklig. Ich kann gar nicht so viel schimpfen, wie ich möchte.


Betrifft: Wikileaks

 

Ein unglaublich guter Beitrag.


Soziologie ist ein Kampfsport

Die kritische Soziologie hat alles gewonnen – und doch verloren, weil sie nur gegen sich selbst kämpft.

Haben soziale Ungleichheiten einen Nutzen? Für den Soziologen Pierre Bourdieu ist diese Frage falsch gestellt. Es ist eine metaphysische, politische Frage. Als Wissenschaftler interessiert sich Bourdieu deshalb nicht für den Nutzen, sondern für die Funktion sozialer Ungleichheit für die Gesellschaft. Denn über den Nutzen oder Schaden kann man sich tatsächlich trefflich politisch streiten, sich dabei auf die eine oder andere Seite schlagen und je nach Überzeugung ein Mehr oder Weniger an sozialer Ungleichheit als nützlicher für die Gesellschaft vertreten. Doch solche politischen Argumentationen kommen nie ohne eine Zieldimension aus: Gut, nützlich, gerecht, verträglich, nachhaltig und produktiv soll die Gesellschaft sein. Was dann aber wirklich das gerechteste oder nachhaltigste ist, bleibt dabei offen. Ob es nun um die Atomkraft, das Bedingungslose Grundeinkommen oder die Gesamtschule geht – über die Zieldimensionen Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit respektive gute Bildung sind sich alle einig. Und die Politik debattiert nur noch über den besten Weg dort hin. Das problematische daran ist: Jedesmal, wenn einer der Diskurse auf diese Weise politisch verhandelt wird, werden dabei die ebenfalls ungeklärten Zieldimensionen der anderer Debatten einfach als festgesetzt und als unumstößlich akzeptiert. So erstellt sich Politik ihren Gegenstand – und verhindert möglicherweise eine Bearbeitung des Problems, indem sie die Meinungen und Energie der Menschen in geregelte Bahnen lenkt und absorbiert, wobei die Verhältnisse objektiv im wesentlichen konstant bestehen bleiben.

Deswegen will es sich weder der politische, noch der wissenschaftliche Bourdieu auf die Frage nach dem Nutzen von sozialer Ungleichheit so undifferenziert einlassen. Seine Kritik geht anders. Er geht ins Detail der Verhältnisse und fragt danach, wie sie sich stabilisieren. Darin steckte zu seiner Zeit noch erhebliches Potential. Die Entdeckung, dass Bildung und Kultur, Stil und Benehmen tatsächlich nach den selben Regeln wie finanzielles Kapital funktionieren bzw. beschreibbar sind, oder die Beobachtung, dass das Bildungssystem tatsächlich im Endeffekt weniger die Leute bildet als eine soziale Ordnung reproduziert, war damals sicher eine unerhört kritische Behauptung. Die bourdieusche Kritik kam dadurch auch ohne eindeutige normativ-metaphysische Stellungnahme aus. Heute allerdings lassen sich die Menschen von solchen Aussagen schon lange nicht mehr schockieren. Zum Beispiel ist es schon lange kein Geheimnis mehr, dass die deutschen Hartz4 – Regelungen in erster Linie dazu da sind, die Leute wieder zur Arbeit zu zwingen und eigentlich nicht wirklich als Ausgleich für Zeiten schwieriger Arbeitsmarktsitationen – Dass es also um Erhalt des (Arbeits-)Marktes geht, und nicht um den Erhalt der Menschen. Schockiert ist davon aber niemand mehr, im Gegenteil. Ähnliches zeigt sich in der Bildungspolitik: Es wird ganz offen zugegeben, dass z.b. in der Hochschulpolitik oder auch bei der Entscheidung zum 8-jährigen Gymnasium nicht im geringsten um die Interessen der Studenten oder Schüler geht, sondern um das Interesse der freien Wirtschaft und der Wertbewerbsfähigkeit des Standortes. Und auch hier scheint das die meisten Menschen nicht wirklich zu stören, ganz im Gegenteil. Die kapitalismuskritische Soziologie scheint hier vor dem Problem zu stehen, dass tatsächlich bereits alles Wesentliche gesagt wurde und die Menschen sich davon trotzdem nicht bewegen lassen. Nicht die kritische Soziologie hat ihre harten Bandagen abgelegt – vielmehr scheint sich die Öffentlichkeit an die harten Schläge gewöhnt zu haben, bzw. von außen daran gewöhnt worden zu sein.

Wenn es einem also um die Wiederbelebung eines kritischen Kapitalbegriffs um der Kritik Willen geht, sollte drüber nachgedacht werden, in welche Richtung man mit diesem Kapitalbegriff gehen will. Ist es dann zweckmäßig, die Kapitallogik bis in die kleinsten Randbereiche der Gesellschaft nachzuweisen? Macht es Sinn, den kapitalistischen Kern von kostenpflichtigen Uni-Kindertagesstätten zu erörtern, während British Petroleum aus Gründen der Profitmaximierung pro Tag 2,6 Millionen (!) Gallonen (!) Rohöl (!) in den Golf von Mexico ergießt? Bevor man also fragt, ob man die heutige Realität noch mit der Kapital-Semantik beschreiben kann (man kann) sollte man eher fragen, wie man dieser Semantik wieder Durchschlagskraft und praktische Anschlussfähigkeit an das alltägliche Leben der Menschen erreicht. Bourdieu selbst stößt noch zu Lebzeiten auf genau dieses Problem: Als er in die französischen Banlieus zu Vorträgen und Podiumsdiskussionen erscheint wird er damit konfrontiert, dass die Betroffenen seine Theorie sehr schön und gut finden, ihnen die Probleme aber schon lange vorher klar waren. Sie suchen nicht nach der exakten Austheoretisierung ihrer Probleme, sondern sie suchen nach Möglichkeiten, ihre Probleme auch den nicht – oder besser: weniger – Betroffenen zu vermitteln – oder sich zumindest selbst zu helfen. Eine Wiederbelebung der Semantik des Kapitals müsste deswegen nicht im universitären Elfenbeinturm erfolgen – denn dort ist sie nicht tot. Sie muss wieder in den Alltag, in die Öffentlichkeit, in die Parlamente und: auf die Straße. Wenn Soziologie ein Kampfsport ist dann muss sie ihr Schattenboxen beenden und wieder lernen, gegen anderes zu kämpfen als ihre eigenen Spielarten.


L´insurrection qui vient – Der kommende Aufstand

francais: http://zinelibrary.info/files/pdf_Insurrection.pdf

deutsch: http://media.de.indymedia.org/media/2010/07//286489.pd

english: http://tarnac9.files.wordpress.com/2009/04/thecominsur_booklet.pdf


Im Namen des Volkes

Sie urteilen,

Im Namen des Volkes,

Doch das einzige Repräsentandum, dass sie kennen, sind ihre eigenen Egos und  ihre eigene Gewinnsucht, ihr Drang  nach Profil und Schneid. Gleichsam ihre eigenen Schwächen, ihre lächerlichen Abhängigkeiten, ihre sich selbst aufgezwungenen Glauben an das große Ganze, ihre Sucht nach Geltung im Gesamtzusammenhang; ihre eigenen Psychosen, ihre eigene Angst und ihre eigene stinkende Fettleibigkeit. Arm sind sie an Güte und Verstand, einzig ihre Anmaßung ist maßlos. Und damit urteilen sie dann,

Im  Namen des Volkes.

Frondienste, Arreste und Zucht sind ihr Geschäft. Zucht? Zu was! Zum funktionieren in ihrem System, Reihe stehen in ihren Gliedern, Maul halten für ihren Frieden und mitspielen im Spiel, in dem sie und immer nur wieder sie gewinnen können! Zu der Ordnung, so wie sie in ihren Büchern steht! Zu der Bildung, die sie für ihre Maschinen brauchen! Zu der Kreativität, die ihre Kultur entwickelt! Zur Entwicklung, die ihrer Wohlfahrt dient. Zum Respekt, den sie für sich einfordern. So urteilen sie dann,

Im Namen des Volkes.

Allgemeinheit, Staat, Nation, Gemeinwohl, dass sind ihre besten Interessen? Sie legen den Menschen ihre Worte in den Mund, und schütten Branntwein hinterher, damit es erträglich schmeckt. Sie flüstern den Einzelnen ihre Ängste ein, und zelebrieren schaurig Mummenschanz, damit man es als notwendig versteht. Sie vergiften den Hungrigen mit synthetischem Essen, damit selbst Hunger nicht zweifeln lässt.  Sie demütigen ständig Alle, damit die Demut zum Normalzustand wird. Sie erlügen, betrügen und erstinken eine Nation und ein Gemeinwohl, bis der Einzelne seine eigene Misére nicht mehr sehen kann und den Dreck, in dem er hungert, bricht und west, als seinem Vaterland sich suhlt und das Blut der Anderen als von irgendeiner verschiednen Art und Rasse zu erkennen meint, wo er eigentlich nur sein eignes und seiner Artgenossen und Freunde Blut im Staub erblickt. So urteilt er dann,

Im Namen des Volkes.

Im Namen des Volkes distanciere ich mich nun; von den Egos, den Profilieren, den Strebern und Gewinnern, von der Abhängigkeit; vom Zwang, vom Glauben, vom Ganzen, von der Geltung; von den Psychosen und der Angst, von der Anmaßung und der Fettleibigkeit, von der Zucht, von der Ordnung, von der Bildung, von der Kreativität und der Kultur; vom Branntwein und dem Gift, von der Angst und von der Propaganda, vom Lügen und Betrügen, vom Hunger und von der Demut, von der Nation, vom Staat und von der Allgemeinheit. So urteile ich dann,

Im Namen des Volkes distanciere ich mich vom Namen des Volkes.


Identität

Identitätskrise – aber nicht die Frage wer ich bin.

Mit sich selbst identisch sein.

Gestern mit einem Buddhisten unterhalten und jetzt weiß ich nicht mehr OB ich bin! Und überhaupt wärs ja falsch, (ich) zu sein.

Außerdem ist es zu kalt für ne orangene Toga. Und – Eine Toga tragen wäre ja auch wieder „Ego“.

Wie kann ich jetzt gleich in das Institut gehen, ohne dass das Ego in das Institut geht? Wie kann man denn sprechen, wenn man sein Ego abgelegt hat?

Ist es überhaupt zu kalt? Wer sagt denn das?

Und vor allem: Man sollte jetzt echt nicht Rousseau lesen, wenn der mit seinem „edlen Wilden“ kommt und meint, dass der Mensch an sich gut ist, aber durch die Vergesellschaftung böse wird. Wenigstens sagt er, welche Gesellschaft er meint. „Hütet euch vor dem Betrüger, der die bürgerliche Gesellschaft gegründet hat.“

Das macht noch viel mehr kaputt. – Aber ich muss ja. DA! Schon wieder „ich“! Zefix, könnte mans mal im edlen-wilden-Dialekt nennen… Ja ja, ha ha Ethno-Chauvinismus, ganz klasse.

Wer sagt was?

Ist Buddhismus ist ein Humanismus? – Dunkles Studentendeutsch, dunkle französische Lehrer. Das Ego ist das dunkle. Sartre ist ein Egoist.

Nachtrag: Ab heute endlich wieder im Sortiment: Krieg in Korea.


Weisheit der Woche

La misanthropie est l’état de détester le genre humain.


De-Globalisierung?

Der folgende Artikel entstand im Frühjahr 2010 anlässlich der internationalen Finanzkrise. Aus dem aktuellem Anlass der fortdauernden Bankenkrise in Irland, und den weiter nicht  gelösten Finanzproblemen des Euroraumes soll er hier nochmal aufgerollt werden. Der Artikel bespricht zwei Ansätze, die nach neuen Möglichkeiten für eine neue Regulierung des Weltfinanzsystems suchen. Konkret geht es dabei um einen Governance-Ansatz, der eher kleine, konkrete Schritte machen will und einen  politökonomischen Ansatz, der das System im Zuge einer De-Globalisierung an den Grundpfeilern packen will, dabei aber gleichermaßen konkrete Aktionsvorschläge bringt.

Abgesehen von einer Spur Naivität des Verfassers, stellten sich die Analysen bezüglich der gesellschaftlichen Attitüde zum Finanzsystem im Nachhinein betrachtet als falsch heraus. Interessant ist, dass sich weder gemäßigte Governance-Lösungen, noch radikalere Ansätze durchgesetzt haben, obwohl es damals danach aussah, als ob wengistens einige gemäßigte Veränderungen des Finanzsystems politisch schon längst „im Kasten“ gewesen sind. Und noch interesaanter ist, dass der Artikel unfreiwillig auch schon die Antwort darauf gibt, warum sich nichts verändert hat: Die im letzten Abschnitt „Perspektiven“ geforderte Anbindung der Finanzarchitektur-Diskussion sowohl an einen allgemeinen zivilgesellschaftlichen Diskurs als auch an Debatten um andere soziale Problemlagen, also beispielsweise eine diskursive Verknüpfung von internationaler Ungleichheit mit sozialen Ungleicheitsproblemen innerhalb der Nationalstaaten, ist nicht erfolgt.

Governancelösungen für eine neue internationale Finanzarchitektur?

Die Kernelemente der Globalisierung: Weltfinanz- und Welthandelsordnung

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Globalisierung hat sich zu einem Bereich des politischen und wissenschaftlichen Mainstream entwickelt. Oftmals eng verbunden mit Kritik an dem in vielen politischen Entscheidungsstrukturen vorherrschenden Denkparadigma des Neoliberalismus, ist die Globalisierungskritik mittlerweile genauso komplex wie die Globalisierung selbst. Friedens-, entwicklungs-, kultur-, ordnungs-, verteilungs- und umweltpolitische Fragen stehen heute unter dem Vorzeichen ihrer globalen Zusammenhänge und Implikationen. Der -wenn man so will- Klassiker der Globalisierungs- und Liberalismuskritik, nämlich die Auseinandersetzung mit der internationalen Handels- und Finanzordnung, wie sie schon bei Marx auftaucht, wird dabei zu nur mehr einem unter vielen globalisierungskritischen Forschungsfeldern.

Im Angesicht der aktuellen Finanzkrise jedoch, die sich mit hoher Geschwindigkeit zu einer weltweit an die Substanz sowohl von Entwicklungsländern als auch von entwickelten westlichen Ökonomien gehende Wirtschaftskrise ausgeweitet hat, rücken die Fragen nach der Weltfinanzordnung wieder mehr in den Mittelpunkt.

Auch das Duisburger Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), das sich zusammen mit der Bonner Stiftung für Entwicklung und Frieden (SEF) mit der Untersuchung von Globalisierungsprozessen und deren politischer Gestaltung befasst, baut die aktuelle Ausgabe seiner Standardwerkreihe „Globale Trends – Frieden, Entwicklung, Umwelt“ neben dem Phänomen neuer multipolarer Machtkonstellationen und des Klimawandels vor allem um die Frage nach Governancelösungen für eine alternative Weltfinanzordnung auf. Diese Orientierung beruht auf der Erkenntnis, dass der neuerliche wirtschaftliche Abschwung v.a. unterentwickelte Weltregionen wieder überproportional stark trifft und die dort bereits erreichten, oft geringen, Entwicklungsfortschritte gefährdet bzw. ihren weiteren Ausbau in Frage stellt. Besonders die Millennium Development Goals der VN zur Armutsreduktion rücken immer weiter in die Ferne. Eine Neugestaltung des Weltfinanzsystems ist in den Augen daher der INEF Mitarbeiter dringend nötig für die weitere Bearbeitung von globalen Problemlagen wie Sicherheit, Armutsreduktion und Entwicklung.

Finanzen und Handel historisch

Aus einem ganz anderen wissenschaftlichen Umfeld kommen ähnliche Ansätze. Walden Bello, Professor für Soziologie an der staatlichen Universität der Philippinen und Träger des alternativen Nobelpreises, hat schon lange vor der aktuellen Finanzkrise die post-Bretton Woods Weltfinanzordnung als das Kernelement einer falschen Globalisierung erkannt. Die Hauptinstitutionen der Weltfinanz, die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank (WB) sind für ihn von einem neoliberalen Geist beseelt und erfüllen hauptsächlich einen Zweck: Die Aufrechterhaltung der Dominanz des reichen globalen Nordens über die ärmeren Südregionen. Primärer Ansatzpunkt für den Gang des Weges einer anderen Globalisierung ist für Bello daher die radikale Demontage dieser Institutionen. Er nennt dies „De-Globalisierung“.

Historisch gerechtfertigt sind solche Perspektiven durchaus. Die Liberalisierungen des Finanzmarktes in den letzten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts waren der internationalen Stabilität abträglich. Beginnend mit der Aufgabe des US-Goldstandards 1973 zogen sie eine bis ins neue Jahrtausend hinein nicht enden wollende Phase einander ablösender und überlagernder Finanzkrisen nach sich (Küblböck, S. 319, S.327) und führten zu einem neuen Aufschwung von sozialer Ungleichheit. Profitieren konnte dabei aber vor allem die Finanzbranche selbst. Der Handel mit Devisen und allen sonstigen Finanzprodukten wuchs sehr viel schneller als der tatsächliche Welthandel. Zu den größten Verlierern wurde der globale Süden, insbesondere Afrika und Lateinamerika. Zum Teil hoch verschuldet bei privaten, nicht staatlichen Finanzdienstleistern mussten diese Staaten empfindliche Teile ihres Bruttoinlandsproduktes v.a. zum Schuldendienst in den Norden transferieren – aus finanztechnischer Perspektive nur recht und billig, aus entwicklungspolitischer Sicht aber kontraproduktiv und normativ sowieso zweifelhaft. Aber zu der einfachen materiellen Abhängigkeit kommt ein weiterer Faktor hinzu: Zur Bedienung ihrer Kredite sind die Schuldner (die Dritte Welt) auf weitere Kredite angewiesen, die sie vom IWF oder der Weltbank bekommen. Diese Kredite sind eng gekoppelt an sogenannte wirtschaftliche Strukturanpassungsmaßnahmen. Die Kreditnehmer müssen die Wirtschaft ihrer Länder nach westlichen, (neo-)liberalen Vorgaben umbauen. Starke Verkleinerung der Staatsquote, Importliberalisierung, Privatisierung von Staatsunternehmen, Abwertung der Währung, Lohnkürzungen und Verringerung des Arbeiterschutzes waren und sind teil dieser Strukturanpassungen (Bello 2005, S.34). Parallelen zu der aktuellen Staatskrise Griechenlands, in deren Rahmen die EU einen ganz ähnlichen Anpassungskurs verfolgt, drängen sich hier übrigens förmlich auf. Der tatsächliche Beitrag der Strukturanpassungen zur Entwicklung der Länder ist jedoch mehr als zweifelhaft. Profitieren können hauptsächlich westliche Firmen und Finanzdienstleister, die in den „angepassten“ Ländern einen idealen Raum für ihre Geschäfte fanden. Erwirtschaftete Gewinne bleiben dabei natürlich nicht in dem entsprechenden Land, sondern werden zurück in die Heimat repatriiert. Die WTO stellt dabei als „dritte Säule des Systems“ (Bello 2005, S. 40) eine weitere Sicherungsinstanz westlicher Interessen dar. Auf Initiative der USA hin errichtet, löste die WTO das harmlosere Global Agreement On Tariffs And Trade (GATT) ab, um den globalen Wettbewerbsvorteil von US Firmen weiter aufrecht zu erhalten.

Entsprechend sind die Entscheidungsstrukturen dieser Institutionen nicht demokratisch sondern von den Westländern -insbesondere den USA- dominiert, wobei sich die WTO durch ihr formales Prinzip des Konsens, welcher dann informell erzwungen wird, für Bello als besonders perfide hervortut. Für die derzeitige Weltfinanz- und Welthandelsordnung fällt die Bilanz also in so manchen Punkten durchaus negativ aus.

Alternativen?

Doch welche alternativen Vorschläge gibt es? Viele der wichtigen politischen Entscheidungsträger weltweit -man möchte sagen: das Establishment- halten bei ihren Visionen für die Zukunft an neoklassischen Konzepten fest. D.h. sie gehen prinzipiell von der Angemessenheit des aktuellen Weltfinanzsystems aus und sehen die Ursachen für die wiederkehrenden Krisen nicht in strukturellen Schieflagen, sondern in verfehlter Geldpolitik. Keynesianische Argumente, die unter anderem vor einer halbherzigen Regulierung, in deren Zuge z.B. durch das Retten von insolventen Banken nur Verluste verstaatlicht werden -wobei die lukrativen Sparten in privater Hand bleiben-, werden nur wenig gehört. Auch die Abschlusserklärung des Londoner G-20 Gipfels 2009 sieht im Wesentlichen eine Stärkung und innere Reform der etablierten Finanzinstitutionen vor, und nicht eine grundlegende Neugestaltung.

Die Governance-Perspektive: Transaktionssteuern

Dr. Heribert Dieter, Mitarbeiter im INEF, schätzt die Möglichkeit für solche immanenten Reformvorhaben dagegen aus mehreren Gründen geringer ein. Nicht nur die WTO hat in seinen Augen massiv an Macht verloren, als sowohl die USA als auch die EU begannen, in wirtschaftspolitischen Fragen wieder auf bilateraler Basis, und nicht im Rahmen der WTO-eigenen multilateralen Verfahren zu bearbeiten. Auch der IWF hat in der neuerlichen Krise einiges an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Auf der einen Seite hat es der IWF bis heute nicht geschafft, angemessene Notfallkreditmodelle zu entwerfen, die den von Krisen bedrohten Entwicklungsländern wirklich helfen können. Auf der anderen Seite geraten die Strukturanpassungsprinzipien des IWF angesichts des Umgangs des Westens mit der Bankenkrise in erhebliche Erklärungsnot: Die Politik des Westens hält sich nämlich selbst wie es scheint nicht im geringsten an die marktradikalen Prinzipien, die sie der Dritten Welt via IWF als entwicklungsfördernd verkaufen will. Im Gegenteil: Die westlichen Staaten greifen massivst in den krisenhaften Finanzmarkt ein. Nur die allerwenigsten maroden Banken wurden tatsächlich ihrem Marktschicksal überlassen, die meisten, vor allem sämtliche große Banken wurden durch riesige Finanzspritzen der Staaten vor dem Bankrott gerettet. Die Realwirtschaft, die ebenfalls stark unter der Krise litt, wurde mit nicht minder großen Konjunkturpaketen versorgt. Beispiele sind das 768 Milliarden US Dollar (!) große Paket, das der Präsident der Vereinigten Staaten Obama gegen die Rezession ins Feld führte, was über einem Viertel des amerikanischen BIP entspricht, oder auch das deutsche 23 Milliarden schwere Konjunkturpaket II. Dies und das zunehmende Selbstbewusstsein der neueren Finanzmächte, v.a. China (das gerade durch das Anhäufen von Dollars die Wettbewerbsfähigkeit Amerikas stark unter Druck setzt), „wird die Weiterentwicklung sowohl des IWF als auch der Regeln zur Verhinderung der nächsten schweren Finanzkrise erheblich erschweren“ (Dieter 2009, S. 353).

Dr. Dieter hält die Reformvorschläge, wie sie v.a. die G-20 hervorbringt, also Aufstockung und Stärkung der etablierten Finanzinstitutionen, für nicht tiefgreifend genug. Er schlägt stattdessen einen Rückbau v.a. des IWF vor. Dieser solle sich wieder seiner ursprünglichen Aufgabe, nämlich der Notfallkreditvergabe widmen und von jeglichen Strukturanpassungsmaßnahmen absehen. Die Entscheidungsstrukturen der Finanzinstitutionen sollten ebenfalls umgebaut werden, um das nicht (mehr) gerechtfertigte Übergewicht der transatlantischen Staaten abzubauen. Andernfalls drohen noch schlimmere Krisen, falls der IWF je seinen Monopolstatus verlieren und in Konkurrenz zu alternativen, externen Finanzinstitutionen treten müsste. Eine Rückkehr zu einem Bretton-Woods ähnlichen System von Kapitalverkehrsbeschränkungen wird prinzipiell für möglich und auch sinnvoll gehalten. Allerdings scheint eine solche Rückkehr politisch kaum durchsetzbar, da, auch wenn international Konsens über die Notwendigkeit solcher Beschränkungen herrscht, die verschiedenen Staaten sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bei der tatsächlichen Ausgestaltung solcher Regeln einigen könnten. Damit bedient sich Dieter einer finanzpolitischen Argumentationsweise, die er selbst als keynesianisch bezeichnet und die er sowohl von der neoklassischen als auch von der politökonomischen Argumentationsweise unterscheidet (Dieter 2009 S. 332). Er empfiehlt folgerichtig die Erhebung von Finanztransaktionssteuern (Dieter 2009, S. 355). Die verschiedenen regionalen Blöcke könnten die Höhe dieser Steuern selbst autark festlegen, wodurch schwierige internationale Verhandlungen vermieden werden könnten. Gleichzeitig würde sich eine nicht zu unterschätzende Schutzfunktion gegen regionenübergreifende Finanzkrisen einstellen.

Die ganzheitliche Perspektive: De-Globalisierung

Walden Bello sieht die internationalen Finanzinstitutionen aus noch kritischerer Perspektive. Gewohnt pointiert sieht er bereits in der Asienkrise der 90er Jahre das „Stalingrad des IWF“ (Bello 2005, S. 52). Auch die Weltbank kann aus seiner Sicht keinerlei Entwicklungserfolge für sich verbuchen. Zusammen genommen haben die Finanzdrillinge IWF, WB und WTO zu einer schlimmen Marginalisierung des Südens und zu globaler Instabilität beigetragen. Für ihn hat daher „Die Krise des gegenwärtigen Systems von Global Governance […] systemische Ursachen. Sie kann nicht durch bloße Anpassungen innerhalb des Systems bewältigt werden […]“ (Bello 2005, S. 60). Deshalb schlägt er einen radikalen Bruch mit der bestehenden globalen Wirtschaftssteuerung vor. Die bisherigen Institutionen müssen ihre Aufgaben größtenteils niederlegen. So soll der IWF in eine reine Forschungs- und Beratungsanstalt umgebaut werden und die Aufgaben der Weltbank werden an neu zu schaffende, regionale Agenturen mit partizipatorischer Entscheidungsstruktur übergeben. Eine Aufstockung der Mittel dieser Institutionen, die über den Umweg der Kreditvergabe an die Dritte Welt die gesamte Weltwirtschaft ankurbeln soll -also das G-20 Konzept-, sieht Bello dagegen als „Rohrkrepierer“ (Bello 2009 S. 2, i.e.O.: „non-starter“). Auch der ebenfalls vom letzten G-20 Gipfel -den Bello aufgrund der darin sichtbaren, großen Verunsicherung der westlichen Finanzmächte köstlich als „G-20 Summit Of Fear“ bezeichnet- angestrebte Reform der Entscheidungsstrukturen kann Bello kaum etwas abgewinnen. Die WTO schließlich, als Verkörperung der Freihandelsdoktrin, wird seinem Vorschlag gemäß zuerst blockiert und dann abgeschafft. Nur so können die drängendsten Weltprobleme Armut, Ungleichheit, Stagnation, Umweltschädigung und Krisenhaftigkeit eingedämmt werden.

Parallel zu dieser Kampagne der De-Globalisierung der Weltwirtschaft muss laut Bello der Rekonstruktionsprozess einer alternativen Form von Global Economic Governance stattfinden. Auf der abstrakteren Ebene sieht Bello im wesentlichen drei Ansatzpunkte, wie sich der weltweite Finanzrahmen für die Wirtschaft zu verändern hat. Zum ersten dürften Auslandsdirektinvestitionen nicht mehr als die primäre Finanzierungsmöglichkeit für Wachstum gesehen werden. Nachhaltiges Wachstum muss im Wesentlichen von den landeseigenen Finanzkapazitäten getragen werden. Zweitens muss die Zauberformel des Export als Motor des Wachstums aufgegeben werden. Im Zeichen von Stabilität, Unabhängigkeit und v.a. Gerechtigkeit muss der Binnenkonsum das Wachstum bestimmen. Schließlich soll drittens weltweit Umverteilung von Wohlstand von oben nach unten forciert werden. Nur so könnten laut Bello Nachhaltigkeit, Stabilität und Entwicklung geschaffen werden (Bello 2005, S. 103). Eine solche Argumentationsweise würde von Dieter als politökonomisch eingeordnet werden.

Auf der konkreten Ebene der institutionellen Ausgestaltung eines globalen Finanzraums in obigem Sinne sieht Bello wiederum drei Handlungsmöglichkeiten. Gemäß eines Entwurfs der Stiglitz-Kommission soll erstens ein internationales Forum, ein „Global Coordination Council“ eingerichtet werden, das in breitem Maßstab und auf demokratisch-multilateraler Basis über eine weltweite Reform des Wirtschafts- und Finanzsystems beraten soll. Das Zentrum dieser neuen Finanzarchitektur soll zweitens aus regionalen statt globalen Institutionen bestehen. Bello nennt die asiatische Chiang Mai Initiative, ein Finanzfonds, der die wichtigsten Ökonomien Asiens umfasst und in Krisenfällen mit Liquidität versorgt, als Beispiel für eine solche regionale Institution. Auf europäischer Ebene könnte wohl die EZB oder ein zu schaffender europäischer Währungsfonds ähnliche Aufgaben übernehmen. Drittens fordert Bello die bedingungslose Annullierung jeglicher Schulden aller Entwicklungsländer bei den alten Finanzinstitutionen des Nordens (Bello 2009, S.4). Von einer Finanztransaktionssteuer -als einem keynesianischen Modell- ist bei Bello dagegen kaum die Rede.

Governance und Fundamentalkritik – geht das zusammen?

Beide Beiträge haben einiges an Potential. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie sowohl die derzeitigen neoklassischen Reformprojekte, als auch die Überlegungen zu einer Rückkehr zu einem globalen Keynesianismus negativ bewerten. Die Vorschläge des INEF/SEF sind konkreter, und von vornherein auf politische Durchsetzbarkeit getrimmt. Das sollte keinesfalls als bloße Governance-Kleinkunst abgetan werden. Die tatsächliche Reichweite der vorgeschlagenen Transaktionssteuer würde immerhin in den Händen von -größtenteils- demokratisch verfassten Körpern (z.B. der EU) liegen. Bei entsprechendem politischen Willen könnte sie also theoretisch zu einem äußert mächtigen Instrument gegen den sogenannten Kasinokapitalismus mit seinen zerstörerischen Spekulationen werden. Dennoch bleiben bei dieser fokussierten, konkreten Betrachtungsweise natürlich andere wichtige Aspekte außen vor. Die strukturelle Abhängigkeit des globalen Südens vom Norden wird in diesem Ansatz genauso wenig thematisiert wie der Kapitalismus als Grundlage der Weltwirtschaft im Allgemeinen. Letztendlich handelt es sich um einen Governance-Ansatz mit per definitionem beschränkter Reichweite, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Walden Bello steht der Governance-Idee generell kritisch gegenüber. Schwer fassbare, möglicherweise elitäre Steuerungsmechanismen im Hintergrund, womöglich fern von verfasster Legitimität sind ihm -zurecht- ein Dorn im Auge (vgl. Brand 2005, S.180 ff.). Interessanterweise zeigt aber gerade der Beitrag des INEF/SEF, das Governanceansätze nicht automatisch Ferne, sondern auch gerade Nähe zu verfasster Legitimität bedeuten können. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil ist und bleibt jedoch Bellos allumfassende Perspektive. Auch und gerade weil es sich durch diese Perspektive bedingt viele von Bellos Texten nicht streng wissenschaftliche Abhandlungen sind, gewinnt er dadurch die Freiheit, in großen Schlägen globale Schieflagen in ihrer ganzen Breite aufzudecken. Nicht zuletzt schafft er damit auch Inspiration und Ansatzpunkte für ein ganzes Politik- und Forschungsfeld (Brand 2005, S. 187).

Deutlich wird insgesamt v.a. eines: Das eine one-and-only Modell für die Zukunft der internationalen Finanzordnung gibt es nicht. Handlungsbedarf besteht, das zeigen beide Beiträge eindringlich. Und vielleicht noch wichtiger: Gerade die Verschiedenheit der Beiträge zeigt, wie zweifelhaft die derzeitigen Reformbemühungen der Großmächte der Finanzwelt sind.

Eigendynamik der Finanzpolitik

Wenn aber auch manche Governance-Strategien anscheinend kritischer ausfallen, als man ihnen auf den ersten Blick zugesteht, und wenn auch fundamentalkritische Ansätze viele wichtige Perspektiven überhaupt erst eröffnen, bleibt immer noch die Frage, welche Programme sich letztendlich im finanzpolitischen Diskurs durchsetzen. Erwartungsgemäß sind weder die Hauptakteure der internationalen Finanzpolitik noch die Größen der globalen Finanzwirtschaft nach der jüngsten Krise in allzu große Reue oder Schuldbewusstsein verfallen. Entsprechend wurde weder der Weg der politische Neustrukturierung der internationalen Finanzordnung (wie z.B. durch Stiglitz‘ Global Coordination Council) beschritten, noch wurde in der Finanzwirtschaft eine Bereitschaft zur Mithilfe an der Beseitigung der von ihr ausgelösten Schäden (z.B. durch eine Transaktionssteuer) deutlich. Was aber passiert, ist, dass die internationale Finanzpolitik eine seltsame Eigendynamik entwickelt, die ganz von selbst Elemente aus verschiedenen Zukunftsmodellen vermischt. Am deutlichsten wird das ganz aktuell an der Affäre um den beinahen griechischen Staatsbankrott. Wenn man einmal von den schwerwiegenden innenpolitischen Problemen Griechenlands absieht -die sicherlich einen großen Teil zu der aktuellen Staatskrise beitragen, aber eben auch sicherlich nicht ausschließlich dafür verantwortlich sind, wie es häufig in den europäischen Medien dargestellt wird (vgl. den Beitrag des Deutsche Welle TV vom 28. Januar 2010)- kann man an diesem Fall eine interessante finanzpolitische Konstellation erkennen. Einerseits sind neoklassischen Argumente zu hören, so von EU- Währungskommissar Rehn: Griechenland wirtschafte falsch und gefährde den Euroraum durch ein horrendes Staatsdefizit. Die Lösung der Krise setze ein radikalen Sparkurs Griechenlands voraus. Faktisch würde dies einen Umbau des Staates zu mehr angebotorientiertem und offenem Wirtschaften bei niedrigerer Staatsquote, kurz: mehr Markt und mehr indirekte Steuern, bedeuten. Derweil laufen die Griechen Sturm gegen einen solchen Kurs. Sie sehen Griechenland vielmehr als Opfer von Spekulationsangriffen, die im Rahmen des internationalen Finanzsystems beinahe erfolgreich (!) einen Staatsbankrott herbeigeführt hätten. Eine These, an der durchaus etwas dran ist. Die Krise wurde schließlich durch eine Herabstufung der internationalen Kreditwürdigkeit Griechenlands durch Ratingagenturen erst richtig akut.

In dieser Situation zwischen zwei Fronten greift der griechische Staatschef Georgios Papandreou -der übrigens seit 2006 auch Präsident der zweiten sozialistischen Internationale ist- offensiv die keynesianische Argumentation auf und wirbt in den USA an höchster Stelle für stärkere Beschränkungen des internationalen Kapitalflusses und Maßnahmen gegen spekulative Attacken von Investoren gegen Länder oder ganze Erdteile. Mit der Betonung darauf, dass ein schwacher oder gar instabiler Euroraum auch für die Vereinigten Staaten nur Nachteile mit sich bringt, spielt er eine sehr interessante politische Karte aus: „Ob ihr wollt oder nicht, wir sitzen im selben Boot“, ist Papandreous message an Amerika. Und Präsident Obama steht dieser Botschaft durchaus aufgeschlossen gegenüber (vgl. u.a. Focus 09. März 2010).

Europa ist währenddessen geschockt von der ungeahnten Verletzlichkeit des Euroraumes. Gleichzeitig sieht Europa, dass von den unflexiblen bestehenden Finanzinstitutionen kaum Hilfe zu erwarten ist: Wenn Griechenland gerettet werden soll, wird die EU dies selber schultern müssen. Und hier passiert das Unerwartete: Ganz offen denkt die Europäische Union -am 09. März 2010 ganz aktuell die deutsche Bundeskanzlerin Merkel und der luxemburgische Regierungschef Juncker- über die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds nach, der auf regionaler Ebene ähnliche Funktionen übernehmen soll, wie sie einst als Kernbereich des IWF auf internationaler Ebene gedacht waren. Ob bewusst gewollt oder nicht, folgen sie damit einer politökonomischen Argumentationsweise, vor der Dr. Dieter im Hinblick auf eine mögliche, schädliche Konkurrenz der Institutionen gewarnt hatte: Sie bilden eine regionale, aus einer verfassten Staatengemeinschaft hervorgehende Ersatzinstitution, die die Aufgaben der bestehenden internationalen, westlich-transatlantisch dominierten Finanzarchitektur substituieren soll. Also ganz genau so, wie es 2009 von Bello empfohlen wurde. Nur die Motive dafür dürften verschieden sein.

Perspektiven?

In dieser seltsamen Eigendynamik, in der verschiedene Akteure auf ganz unterschiedliche Argumentationsmuster zurückgreifen, zeigt sich, dass die letzte Finanzkrise wohl doch nicht so spurlos an den Eliten dieser Welt vorüber gegangen ist. Denn obwohl der ganz große Crash, wie ihn nicht Wenige insgeheim vielleicht sogar herbeigesehnt haben, ausblieb, ist in den Köpfen der Menschen wohl doch vor allem eines zu Bruch gegangen: Der Glaube an die neoliberale Doktrin des Freien Marktes. Weder Europa noch die Vereinigten Staaten haben in dem Augenblick der Krise dem Markt und seinen selbstheilenden Kräften vertraut und stattdessen selbst das Ruder in die Hand genommen. Einerseits sind die Maßnahmen, die die Staaten ergriffen, auf den ersten Blick sehr schwierig zu bewerten, da es sich bei vielen von ihnen um eine Vergesellschaftung von privaten Verlustgeschäften handelt, die schon zuvor auf dem Rücken ebenjener Gesellschaft ausgetragen wurden und immer noch werden. Die schlichte faktische Aufgabe der marktradikalen Denkweise, auch wenn sie eher still im Hintergrund passierte, lässt jedoch für die Zukunft hoffen. Jetzt allerdings wäre der richtige Moment, diese Grundlagendebatte aus dem Hintergrund in den medialen politischen Vordergrund zu rücken. Der Weg hin zu einer regional gegliederten, an politische Legitimität gebundenen, neuen internationalen Finanzarchitektur kann nur dann gelingen, wenn diese Legitimität im zumindest regionalen Rahmen aus einem demokratischen Diskurs geschöpft wird. Ein nächster Schritt in der globalisierungskritischen Agenda für eine alternative Weltfinanzordnung muss also u.a. die verstärkte Anbindung des durchaus vorhandenen zivilgesellschaftlichen Diskurses an die wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um die finanzpolitische Zukunft der Welt sein.

Literatur:

Bello, Walden F. (2005): De-Globalisierung. Widerstand gegen die neue Weltordnung. Hamburg: VSA-Verl.

Bello, Walden F. (2009): The G-20’s summit of fear. In: Asia Times Online, April 2. 2009

Onl. verfügb. unter: http://www.atimes.com/atimes/Global_Economy/KD02Dj02.html

Brand, Ulrich (2005): Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer Strategien. Hamburg: VSA

Debiel, Thomas et al. (2009): Globale Trends im Schatten der Weltfinanzkrise. Herausforderungen Kräfteverschiebungen und Optionen für Global Governance. In: Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends 2010. Frieden – Entwicklung – Umwelt. (2009). Frankfurt am Main: Fischer

Die Konjunkturpakete der Bundesregierung

http://www.konjunkturpaket.de/Webs/KP/DE/Investitionen/investitionen.html

Dieter, Heribert (2009): Global Economic Governance nach der Finanzkrise. In: Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends 2010. Frieden – Entwicklung – Umwelt. (2009). Frankfurt am Main: Fischer

Europa Aktuell: Griechenland: Korruption und Pleite, Beitrag in der Deutschen Welle vom 28. Januar 2010, Onl. verfügb. unter: http://www.youtube.com/watch?v=N0R_IX6RsRM&feature=channel

Ginsburg, Hans-Jakob/Losse, Bert (2009): US-Konjunkturpaket: Milliarden gegen die Finanzkrisen-Misere. Artikel in der Wirtschaftswoche, 19. Februar 2009. Onl. verfüg. unter: http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/usa-milliarden-gegen-die-finanzkrisen-misere-387279/

Küblböck, Karin et. al. (2009): Weltfinanzordnung in der Krise. In: Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends 2010. Frieden – Entwicklung – Umwelt. (2009). Frankfurt am Main: Fischer


Munich Student Council Dawns; Marat Not Dead.

Die Studentische Vollversammlung München steckt die Fronten für eine neue inneruniversitäre politische Diskussionsreihe ab.
Drei Referate zur Lage – So hatte die Studierendenvertretung das Programm der heutigen Vollversammlung der Studierendenschaft der LMU München geplant. Erschienen sind zur Sitzung von den etwa 45.000 Studenten immerhin ca. etwas mehr als 1000, darunter viele der „üblichen Verdächtigen“ und bekannte Gesichter von den Aktionen  des Sommers und des letzten Winters, aber auch einige interessierte Erstsemester.
Drei konkret inhaltliche Diskussionen sollen sich jeweils an die Referate anschließen. Doch die Diskussion wendet sich schnell den großen, abstrakten Fragen zu, die den Kontext der aktuellen bildungspolitischen Probleme betreffen. Das lag zum Teil an den wirklich unangenehmen Nachrichten, welche die vier Referenten für die versammelte Mannschaft in petto hatten.
Den Anfang machte Eva Blomberg, die Geschäftsführerin der StuVe. Sie berichtete über die aktuelle Haushaltslage der LMU, die teils wirklich grotesken Betreuungsverhältnisse und die Kürzungen, von denen bis zur offiziellen Verlautbarung am 21.12.10 noch niemand die genaue Höhe zu sagen vermag. Zwischen 30-50 Millionen € sind als Größenordnung der Kürzungen zu erwarten. Fest steht bisher aber nur, dass aus den bereits fertig geplanten Haushalten der bayerischen Universitäten als Sofort-Sparmaßnahme 13 Mio abgezogen werden. Nach Schätzungen der StuVe könnte die LMU durch alle Einsparungen insgesamt mit bis zu 15 Millionen € betroffen sein. Dazu kommen der doppelte Abiturjahrgang und die Wehrpflichtaussetzung, die bereits jetzt sehr schlechte finanzielle Situation u.v.m. Gute Nachrichten sehen anders aus.
Die anschließende Diskussion beginnt mit Nachfragen an die StuVe: Wie sieht die Unileitung das Ganze? – Sie sieht es kritisch und steht auf der Seite der Studierenden, das ist weder überraschend noch etwas neues. Schließlich geht es grade auch um ihr Geld. Was tut die StuVe konkret? Doch schnell schweift die Diskussion ab: Was kann man denn überhaupt noch tun? Es scheint ja fast so, als ob keine Einzige aller bisherigen Aktionen – ob es Briefe, Proteste oder Besetzungen waren – auch nur die geringste Wirkung gehabt hätte. Weder wurde das Minimalziel der verfassten Studierendenschaft erreicht, noch die Studiengebühren abgeschafft, noch die Betreuungssituationen verbessert noch die Bologna-Reformen in Frage gestellt. Was kann man also noch tun?
Zuerst werden von den Diskutanten die traditionellen Methoden beworben: Also mehr Demonstrieren, mehr Versammlungen, mehr Politisierung der Studentenschaft – Höher, schneller, tiefer quasi: „Wenn wir wirklich laut sind haben die da oben keine Chance gegen uns.“ Andere weisen eher darauf hin, dass man den Protest auf eine andere Ebene holen muss: „Landtag belagern“ scheint hier zunächst das Stichwort zu sein. Und ein klein wenig  Affinität für den französischen und englischen Modus Insurrectione schimmert dabei durch; man fühlt sich an den maratschen Geist erinnert, dem Volksfreund, der zum Wohle der Allgemeinheit auch zu unkonventionellen Methoden greifen möchte . Doch der Eindruck verfliegt schnell wieder. Anschließend wird noch über die Ausweitung des Protests durch das knüpfen von Anschlüssen an andere soziale Bewegungen gesprochen – konkret mit den Gewerkschaften des öffentlichen Dienst, die demnächst auch wieder vor einer Verhandlungsrunde stehen werden. Ein wenig Begeisterung ist dafür zwar da, aber gegen ein derartiges Farbe bekennen sträubt sich offenbar einiges in den Köpfen der Studenten. Bildungsdemos haben eben den Vorteil, dass sie gegenüber anderern Bewegungen so unverbindlich und indifferent bleiben können. Die Erfahrung, dass solche Exklusivveranstaltungen zwar unabhängig, aber dafür auch so gut wie wirkungslos geblieben sind, sitzt vielen der Aktiven offenbar als lupenreines Gefangenendilemma im Nacken. Die Frage bleibt deshalb auch ohne Antwort. „Was tun? – Keine Ahnung.“
Den dramatischen Höhepunkt des Abends setzte im Anschluss daran Malte Pennekamp, Sprecher der LandesAstenKonferenz (LAK). mit seinem Bericht über die aktuelle Novellierung des bayerischen Hochschulgesetztes, die den meisten Anwesenden noch völlig unbekannt war. Informiert und als der gute Redner, der er ist, erklärte er anschaulich die problematischen Aspekte des neuen Gesetzes. Und die sind bei weitem nicht von Pappe. Mit der Einführung von sogenannten berufsbegleitenden Studiengängen könnte es für zukünftige Studentengenerationen noch richtig dicke kommen: Faktisch keine Obergrenzen mehr für Studiengebühren, der Privatisierung wird Tür und Tor geöffnet. Und die viel diskutierte „Ökonomisierung“ der Uni, also der Ausrichtung des Studiums auf die Bedürfnisse der „freien Wirtschaft“, wird wohl in Zukunft nicht mehr aus den kleinen Details der Studienordnungen und Finanzpläne mühsam herausgearbeitet werden, sondern dürfte wohl zum offen sicht- und spürbaren neuen Mainstream der Hochschulpolitik werden.
Nicht wenige der Versammelten starten angesichts dieser Aussichten ziemlich baff in die Diskussionsrunde. „Was tun?“ – das scheint angesichts dieses Ausmaßes gar keine vernünftige Kategorie mehr zu sein. Man kann fast beobachten, wie sich in manchen Köpfen die Tragweite der eben gehörten Ausführungen einarbeitet: Hier kann es nicht mehr nur um  die Unis an sich gehen. Angesichts solcher Pläne wird überdeutlich, dass die gesamtgesellschaftliche Dimension der Bildungsproteste, um deren Anerkennung sich von Teilen der Bewegung kontinuierlich bemüht wurde und deren Bedeutung von anderen Teilen der Bewegung kontinuierlich klein geredet wurde, nicht mehr länger geleugnet werden kann. An den neuen Plänen des Landtags sieht man es nun endlich deutlich und ohne großen Spielraum für Interpretationen: Ja, es gibt eine Privatisierung! Ja, wir richten die Universitäten sogar definitiv und mit Emphase auf die Anforderungen der Firmen aus! Und ja, wir pfeifen drauf, was die Studenten dazu zu sagen haben!
Damit wird – endlich – ein Schritt in die Richtung gemacht, und wieder darüber geredet, was denn eigentlich erreicht werden soll, statt nur über die Methoden zu reden. Demos, Besetzung, Lobbyarbeit? Wohin will man denn damit? Was bringt es noch, jetzt um die „richtige“ Verwendung von Studiengebühren zu debattieren, wenn demnächst die totale Privatisierung ins Haus steht?
Das letzte Referat über die unzufriedenstellende Verwendung der bereits erhobenen Studiengebühren konnte im Anschluß daran nicht mehr wirklich schocken. An die moralische Klausel, dass die Studiengebühren tatsächlich zu einer Verbesserung der Lehre und nicht nur zum stopfen von Haushaltslöchern verwendet wurden hat doch ehrlich gesagt sowieso niemand geglaubt. Die Diskussion hat dann auch sichtlich an Elan verloren und wurde pünktlich aufgelöst, nachdem die Reihen sich schon vermehrt geleert hatten.
Was bleibt? Die Seniorstudenten, welche die an die Vollversammlung anschließende Ringvorlesung besuchen, stoßen sich vor allem an zurückgebliebenem Müll. Eine ältere Dame bringt das, was sie sieht, auf den Punkt: „Die jungen Leute, die denken einfach nicht.“ Damit könnte sie mehr Recht gehabt haben, als ihr lieb sein kann. Denn was viele der Studenten der Vollversammlung von ihrem Standpunkt aus nicht sehen können ist die zweischneidige Rolle, die ihre Aktivität in der Bewegung mit sich bringt: Einerseits bringen sie sich durch ihr Engagement und ihr Auflehnen tatsächlich irgendwie für „die richtige Sache“ ein – das ist nicht zu leugnen. Doch andererseits gerät ihre Subversion dabei zu einer Triebfeder genau des Kapitalisierungsprozesses, gegen den sie eigentlich ankämpfen: Durch einen Protest, der sich entweder unter der Hand oder auch explizit als nur partikulare Interessenvertretung der Studenten versteht, wird effektiv das Widerstandspotential  in kontrollierbare (= politisch ignorierbare) Bahnen kanalisiert und letztlich absorbiert. Die Studierendenschaft wird effektiv gespalten in ein konkretes und ein abstrakt argumentierendes Lager. Das wiederrum verhindert effektiv eine enge Zusammenarbeit mit anderen sozialen Bewegungen. Und die Illusion von politischer Teilnahme am Bildungspolitischen Prozess verhindert ein distanciert-kritisches Bewusstsein der Aktiven. Illusion von politischer teilnahme? Ja: Die politische Aktivität der Bildungsproteste beschränkt sich auf die legitimen Partizipationsformen der repräsentativen Demokratie: Parteienarbeit, Lobbyarbeit, Öffentlichkeitsarbeit – Das sind zweifellos gute politische Tugenden, aber auch die stumpfesten. Zusätzlich findet all dies im institutionellen Rahmen der Studeierendenvertretung statt. Das festigt die strukturelle Hemmung: Wenn man nämlich vor bildungspolitischen Problemen steht, die man eindeutig als Teilaspekt  allgemeinpolitischer Probleme identifiziert, aber kein allgemeinpolitisches Mandat tragen darf, können die Probleme nicht and der Wurzel angegangen werden. Und noch mehr: Gerade durch das Engagement in diesem Rahmen (inklusive dem Abwürgen aller anderweitiger Tendenzen als Sektierertum und Spalterei) reproduziert man genau den repräsentativdemokratischen politischen Normalbetrieb, der selbst Teil der Problemursache ist!
Also was bleibt? Dasselbe wie immer: Ein politischer Diskurs, der sich im wesentlichen dadurch am Leben hält, dass er einfach immer weiter geht. Das muss prinzipiell noch nichts Gutes oder Schlechtes sein. Man sollte aber nie aus den Augen verlieren, dass hier nicht der Raum für die großen politischen Würfe sein wird – nicht sein kann. Der nächste Schritt ist dann, sich darüber klar zu werden, was man dagegen tun kann.

Politik der Kernkraft oder Kernkraft der Politik?

Der Streit um die Kernenergie ist lang und zermürbend – Ist ja auch ein großes Thema.

Doch diskutieren wir in der Kernenergiedebatte möglicherweise die ganze Zeit um Luftschlösser? Bietet uns unser politisches System vielleicht eigentlich gar keine wirkliche Wahl, wenn es um die Energiefrage geht? Sind die eigentlichen Entscheidungen möglicherweise schon lange still und leise in einem breiten gesellschaftlichen Grundkonsens festgezurrt worden? Die Debatte über die Energieproduktion, so wie sie geführt wird, trifft nicht die eigentlichen Probleme und gaukelt stattdessen Allen einen demokratischen Prozess vor, wo objektiv betrachtet nur Selbsttrost und Selbstversicherung hergestellt wird. Politik, egal ob links, grün, liberal oder rechts wird die Kernenergiefragen nicht lösen können. Warum nicht? Weil das die Existenzbedingungen von Politik selbst in Frage stellen würde.

Die Gesellschaft, so wie sie sich im Moment selbst wirtschaftlich produziert, ist nicht durch erneuerbare Energiequellen allein ausreichend zu versorgen. Gleichzeitig haben wir das Dilemma, dass es ebenfalls viele gute Argumente dafür gibt, auch Kernenergie schlicht und ergreifend nicht hinnehmen zu können. Bleiben wir mal für einen Moment bei dem Gedanken, wir könnten definitiv tatsächlich weder die eine noch die andere Variante akzeptieren:

Mitunter stehen wir vielleicht gar nicht vor der Wahl „Atom“ oder „grün“. Die wahren Alternativen sind: Passt die Gesellschaft ihre Produktions- und Konsummechanismen an ihre Energiereserven an, oder passt sie ihre Energiereserven mit Gewalt an ihre Produktion und Konsumption an? Und da trifft Politik jeder Couleur die gleiche Wahl: Nämlich Kontinuität in Konsum und Produktion.

Doch etwas anderes als diese „oberflächliche“ Wahlillusion kann die Politik gar nicht für uns leisten: Denn jeder tiefergehende Diskurs müsst Aporien aufwerfen, welche die demokratischen, staatlichen, fortschrittspositivistischen,kapitalistischen*, arbeitsteiligen Grundfesten der Gesellschaft umwälzen würde und in diesem Zuge das, was wir als „Politik“ kennen radikal verwerfen und neu konzipieren müsste. Man kann nicht von der Politik erwarten, dass sie diese Selbstaufhebung selber leistet.

Damit soll nicht gesagt sein, dass eine solche Umwälzung per se begrüßenswert wäre. Und es soll auch nicht gesagt sein, dass die Politik für immer in dieser Starre gefangen sein wird und niemals etwas produktives Beitragen kann. Gesagt sein soll, dass wir uns Gedanken darüber machen sollten, uns gerade bei Fragen, die eine solche Tragweite haben, wie die Kernenergiedebatte, uns vielleicht nicht so einfach auf die Politik – vor allem auf die repräsentativ-parlamentarische Politik – verlassen können.

Das ist keinesfalls antidemokratisch gemeint – Die Kraft des vernünftigen Arguments im demokratischen Diskurs ist richtig und wichtig. Aber man sollte an die Stelle des Glaubens an das vernünftige Argument ein „aufgeklärtes“ Wissen um die Möglichkeiten als auch Grenzen des vernünftigen Arguments setzen. Und zu den Grenzen einer Argumentation gehört immer zumindest die -nicht selbstverständliche- Erreichbarkeit aller Betroffenen und der ebenfalls immer begrenzte Vorrat an Wissen über den zur Debatte stehenden Gegenstand.

Und gerade deshalb muss man bei der Energiefrage so vorsichtig sein: Weil eben weder die Betroffenen der Zukunft für eine Diskussion erreichbar sind, noch wir eine Ahnung haben, wie sich unsere Entscheidungen jetzt auf die Zukunft auswirken. Denn irreversible Auswirkungen wird jede der Varianten haben, die hier zur „Wahl“ zur stehen.

Doch was bedeutet das nun für die Energiefrage? Was sollen wir tun? – Das kann eben grade so nicht gesagt werden. Ich für meinen Teil bin deswegen gegen die Kernenergie, weil diese Haltung tendenziell dem für mich eigentlich zentralen Problem – der simplen Bejahung von Konsum, Fortschritt und Glauben an die reine Vernunft eher fern steht. Weil damit tendenziell eher ein kritisches Bewusstsein verbunden ist, dass sich nicht mit der sozial ausgeglichenen, demokratisch mediatisierten und technokratisch abgedichteten Marktwirtschaft als Ende der Geschichte zufrieden geben will.

Allein: Das bringt auch mir – leider – keinerlei Gewissheit über die Richtigkeit dieser Haltung. Vielleicht werden die Historiker in des nächsten Jahrhunderts einmal feststellen, dass die linken und alternativen Skeptizismen an sich das aufgeklärtere Prinzip darstellten, konkret in der Kernenergiefrage aber zu radikal falschen Einschätzungen und Entscheidungen geführt haben. Und vielleicht werden sie feststellen, dass Konservativismus und die liberale, wachstumsorientierte politische Ökonomie schon zu unserer Zeit hätten überwunden sein können, die Welt aber in einer Art welthistorischem Gipfel der Ironie vor einer neuen Eiszeit, final ausgelöst durch falsch verstandenen Umwelt- und Klimaschutzaktivismus, bewahrt hat. So abwegig es klingt – genau so könnte es einmal geschehen. Wenn man es aber nicht darauf ankommen lassen will sollte man stattdessen über die wirklichen Alternativen nachdenken – und danach handeln, vielleicht nur mal probeweise. Vielleicht bleibt das eigene Konsumverhalten am Ende die einzige Sicherheit dafür, dass wir es am Ende nicht (schon wieder) dem Wachstum überlassen müssen, uns vor zuviel Wachstum zu retten.


Kritische Stichpunkte zur Vollversammlung der Studierendenschaft der LMU München

Kritische Stichpunkte zur Vollversammlung der Studierendenschaft der LMU München

I.Übersicht: Die Punkte der StuVe:

Chronische Unterfinanzierung, ————————————————–\
Studiengebühren (auch neue und höhere) ———————————–\
drohende Kürzungen, ————————————————————-1.1
überfüllte Vorlesungen und Seminare, ——————————————–\
zu wenige Masterplätze —————————————————————- 1.2
mangelnde Vorbereitung auf den doppelten Abiturjahrgang, ————— 2
kein Semesterticket, ———————————————————————3
unzureichende studentische Mitbestimmung. ———————————– 4
II.Weitere Punkte
Betrifft: Verständnis von Solidarität ———————————————- 5
Zum methodischen Bewusstsein (zum revolutionären Bewusstsein) — 6

I. Zu den Punkten 1.1/1.2 der StuVe.

a) Unis kosten Geld. Das Geld muss von der Gesellschaft als ganzes irgendwie an die Unis gebracht werden. Wenn Geld verteilt wird, wird automatisch auch immer in die eine oder andere Richtung UMverteilt, da kommt man gar nicht dran vorbei. Wenn man aber nur pauschal mehr Geld (oder eben keine Kürzungen) fordert, verkennt und verdeckt man den Umverteilungsaspekt und reproduziert nur den semantischen gleiche-Belastung-für-Alle Trick der Politik.

Genau das passierte ja auch bei den Studiengebühren: Für Leute, die es sich leisten können, spricht ja egtl nichts dagegen, mit Gebühren zur notwendigen Finanzierung der Unis beizutragen. Das Problem ist die strukturelle Benachteiligung derer, bei denen die Wahrscheinlichkeit, ein Studium zu beginnen, sowieso schon niedriger liegt.

Deswegen sind auch Kritiken berechtigt, die das Aufbegehren der Studenten als Jammern auf hohem Niveau n – denn die Studenten sind ein privilegierter Teil der Gesellschaft, wenn auch vllt. nicht der privilegierteste von allen.

Zitat eines Gegners der Vollversammlung:

„Kann ich dann auch kommen und euch allen sagen, dass ihr alle an dem Geld der Arbeiter parasitiert, wo sie Euch 11000 Euro jährlich ausgeben müssen und ihr nicht mal 10% davon zahlen wollt? Die Studiengebühren werden sich auch in der Zukunft vergrößern, bis es wie in USA oder Großbritanien wird. Man kann keine finanzielle Probleme mit Mehrheitbeschlüssen lösen. Diese Versammlung ist genau so sinnlos wie das Wort Kuh in einem Satz mit dem Wort Jupiter. „Das werden wir nicht zulassen!“ hahahaha, wo kommt der Satz her? Ihr habt keine Macht in der Lösung Euer Probleme. Ihr sitzt immer noch auf dem Gelde der Mutti und der Arbeiter. Also ab nach Hause und lernen, lernen, und noch mal lernen, anstatt die Zeit zu verschwenden.“

Richtige Analyse – falsche Schlußfolgerung: Die zitierte Person argumentiert hier, dass die Studierenden gegenüber den Arbeitern privilegiert sind, und dass diesem Unterschied durch hohe Studiengebühren Rechnung getragen werden soll. Die Perspektive sollte aber nicht sein, den Graben zu verfestigen, indem man durch Studiengebühren „die Studierenden“ noch stärker von „den Arbeitern“ trennt, sondern den Unterschied aufzuheben.

Deswegen denke ich, dass die Kategorien „mehr Geld“ (oder „nicht-weniger-Geld“) nicht die richtigen Bahnen für den Protest sind. Stattdessen sollte offen über ein Finanzierungskonzept von Unis geredet werden dürfen, im Rahmen von sozialer Gerechtigkeit, soweit man an soziale Gerechtigkeit in diesem System eben glaubt.

b)Es gibt andere, wichtigere Schrauben, an denen gedreht werden muss, als den Geldhahn. Ein Beispiel sind die Bachelor-Regelstudienzeiten:

Es ist fast ein Gemeinplatz geworden, dass die Bologna-Reform das 4 jähirge Diplom in einen 3 jährigen Bachelor gepresst hat. Ob das stimmt oder nicht sei dahingestellt, man darf aber wohl davon sprechen, dass sich die Arbeitsbelastung durch die erhöht hat, was sich insofern auswirkt, dass sehr viele Bachelorstudenten – besonders solche, die sich nebenher noch für Aktivitäten außerhalb ihres Fachgebiets, wie Sprachen interessieren – den Bachelor in 7 oder 8 Semstern statt in 6 abschließen wollen. Das stellt für manche auch gar kein Problem dar, die Höchststudiendauer deckt das ab. Ein großes Probem stellt das aber für Studenten aus finanziell schwachen Familien dar. BAFöG gibt es nämlich nur und ausschließlich bis zum Ende der Regelstudienzeit von 6 Semestern. Danach weiterzustudieren wird für Studenten ohne finanzielles Polster unmöglich, es sei denn durch vollverzinste Volldarlehen. Hier werden, genauso wie durch die allgemeinen und für Alle gleichen Studiengebühren, finanziell schwache Familien und Studierende eindeutig stärker benachteiligt.

Natürlich kosten Maßnahmen gegen diesen Effekt am Ende auch Geld, aber der Diskurs muss von einer ganz nderen Seite her geführt werden: Nämlich von der Seite der sozialen Gerechtigkeit.

c) Solche Argumentationsstränge über soziale Gerechtigkeit/Ausgleich gehen aber (oder sind schon seit letztem Winter) verloren. Letztlich wird Interessenpolitik für eine konstruierte Allgemeinheit der Studenten betrieben. Und um das zu stützen beruft man sich dann im Endeffekt auch noch auf ein konstruiertes gesellschaftliches Allgemeinwohl á la „wir brauchen Akademiker für Deutschlands Zukunft“. Man sieht daran, wie der Diskurs die politischen Kommunikationskanäle für andere Probleme verstopft. Niemand redet mehr über Probleme an Hauptschulen, Realschulen (oder über das dreigliedrige System an sich), Ausbildungsstituationen etc. oder wenigstens über die soziale Ungerechtigkeit der Studiengebühren, sondern über fehlende Finanzierung allgemein. Eine kritische Linke sollte diese Diskurse wieder ausgraben.

d) Eng damit Verbunden sind dann auch die gesamten Auffassungen und Vorstellung über die Rolle der Universität in der Gesellschaft und damit auch der Arbeitsweise des gesamten universitären Betriebs.

Eine vollständig von staatsökonomischer oder privatwirtschaflicher Finanzierung abhängige Universität braucht sich gerade eben nicht die Vorstellung machen, einem universalistischen aufgeklärten Bildungsideal entspechen zu können. Besonders zynisch sichtbar wird das an dem gefügelten Label „Unsere Uni“: Das Label suggerriert einen freigeistigen, von äußeren Einflüssen freien Ort unabhängiger Bildung – Was auch der ursprünglichen vagen Idee einer „nicht-ökonomisierten Universität“ entsprach. Mit diesem Label wurde eine das Bild einer „besseren Vergangenheit“ projiziert.

Es sollte aber erlaubt sein, einmal andersrum darüber nachdenken: Vielleicht waren die Universitäten auch früher eben NICHT wunderbare Horte von freigeistiger autonomer Intelligenz. Und vielleicht tragen die Kürzungen in Verbindung mit dem immer zunehmenden Andrang auf die Unis einfach nur kurzfristig dazu bei, dass man diese immer schon vorhanden „Unfreiheiten“ wieder vermehrt spürt. Nur gegen die Kürzungen zu sein ist somit keine Perspektive, die unter dem Label „Unsere Uni“ laufen kann. Viel eher würde man damit ein im tiefesten inneren exklusives System restaurieren, dass die Bezeichnung „Unsere, aber nicht eure Uni“ verdient.

WENN das zutrifft, könnte man sich Gedanken drüber machen, dass die Kürzungen vielleicht nicht nur ein Problem, sondern eine Chance für die Idee der Universität ist. Wenn die Mehrheit der Menschen sich dafür entscheidet, dass ein großer nach außen hin freidenkerischer akademischer Apparat – also das, was man gemeinhin als den großen Humboldt-Mythos hochstilisiert, was sich aber de facto dann doch eher als eine Reproduktionsmaschine sozialer Ordnung erweist – nicht mehr gewünscht ist, sollte man das akzeptieren und als Gelegenheit nehmen: Als Gelegenheit, die Universität aus ihrer zentralen Rolle als Teil des Reproduktionsmechanismus für soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit herauslösen und sie tatsächlich unabhängig und autonom machen: Zu jedermanns Uni. (sh. auch die vielen Kontroversen Debatten der Winterbesetzungen zum Thema Zugangsbeschränkungen etc.)

II. Weitere Punkte anhand von Zitaten aus der Diskussion in der heutigen Vollversammlung Regensburg:

Manche dieser Punkte werden sicher so oder so ähnlich auch morgen im Audimax auftreten. Manche der Redebeiträge sprechen in ihrer Absurdität für sich selbst.

1. Die Uni-Streik bewegung frisst jede vernünftige Bildungspolitischen Perspektiven auf.

Redebeitrag: „Solidarität mit den doppelten Jahrgängen, die ein Not-Abitur schreiben.“

Haben wirklich die Gymnasiasten Solidarität nötig? Man könnte vielleicht eher über Solidarität mit den Hauptschülern, denen von den miesesten Lehrern nie eine Perspektive gezeigt wird außer in Leben im Einzelhandel, Solidarität mit Hartz 4lern die als Arbeitslosen-Reservearmee verwaltet werden und Solidarität mit den Leuten aus den Banlieus und aus der 3ten Welt, aber doch nicht mit Abiturienten!?

2. Thema Profil nach Außen: Welche gesellschaftlichen Fronten wollen/sollen wir aufmachen?

Redebeitrag: „Wir brauchen auch die Solidarität der großen Firmen. Wir werden alle mal führende Positionen in Firmen einnehmen, und die Firmen brauchen uns, deswegen sollten wir ihre Stimmen auch mobilisieren.“

Redebeitrag: -“ Unser Kampf ist Angelegenheit von Allen, die in die höhere Bildung wollen.“

3. Zum methodischen Bewusstsein – Modus operandi plenarium, Öffentlichkeit, Denk-Tabus?

-Für die meisten ist die Vollversammlung ein lustiger Spaß. Nichts gegen Spaß, aber das virulente rumgekaspere und sich-selbst-beweihräuchern ist kontraproduktiv.

-Ebenfalls immer wieder gern: Alle freuen sich, weil jeder mal Bundestag spielen darf. Wohin das praktisch führt, das haben die Winterproteste gezeigt.

– Stichwort Medienwirksamkeit: Ist Medienwirksamkeit ein Wert an sich? Ich meine: nein.

Redebeitrag:„Wir brauchen unbedingt Prominente, die sich für unsere Sache einsetzen.“ -Achja?

Redebeitrag: „Wir müssen radikaler werden und sollten die Gebühren statt auf das Konto der Uni auf Treuhandkonto überweisen“ – Das ist also radikal?

Redebeitrag: „Wenn das so weiter geht, könnten wir ja auch gleich selber rausgehen und an unserer Uni Reparaturen durchführen und die Bibliothek selber managen.“

-Stimmt, genau das könnten wir tun. Warum erscheint das allen so unplausibel?

4. Spiegel: Fachschaftermeinungen und Kommentare aus Regensburg

Erster Sprecher: „Die Kürzungen sind verheerend – sie gefährden den Fortbetrieb der Universität in der derzeitigen Form!“

– Also worüber Reden wir? Die Kürzungen oder die derzeitige Form des Betriebs?

Thomas Jancke, philosophische Fakultät 1: „Wir sollten uns (!) nicht unter Wert verkaufen, Erhöhen statt Kürzen, was wir brauchen ist mehr Geld!“

Mariana Mühlbauer (SprecherInnenrat): „Wir brauchen eine Verbindung von ALLEN gesellschaftlichen Gruppen: Kampf allgemein gegen die Sparpakete. Auch die Atom-Laufzeit-Verlängerung ist ein Sparpaket, mit dem wir als Studenten (!) uns beschäftigen müssen.“

– Das klingt doch ziemlich vernünftig.


Proteste gegen Hochschulkürzungen?

Die Bayerische Stattsregierung stellt ihren neuen Haushaltsplan auf. Der Haushalt soll weiter konsolidiert werden – Dazu braucht es Kürzungen.

An vorderster Front dabei ist eine kleine Protestgruppe der Studentenvertretung. Sie zeigen vor der Klausur Flagge gegen Kürzungen an den Hochschulen. Damit haben sie Erfolg: Die Unis kommen so gut wie ungeschoren davon.

Doch ist das ein Grund zu feiern? Ich meine: Jein, nicht unbedingt. Die Probleme könnten tiefer liegen, die Proteste die eigentlichen Schieflagen nur reproduzieren und die „Zusagen“ der Politik könnten sich als geschicktester Schachzug erweisen, den Scharz-Gelb spielen konnte.

Wahrhaft „um-die-Sache“ besorgt zu sein, wirklich „radikal“ zu sein sollte eigentlich bedeuten,  genau den traditionellen politischen „Normalbetrieb“ zu stören, oder sich ihn zumindest vor Augen zu führen und mal nach anderen Mustern Ausschau zu halten, der in dieses Dilemma geführt hat:

1. Denke ich, dass die Kategorien „mehr Geld“ (oder „nicht-weniger-Geld“) nicht die richtigen Bahnen für den Protest sind. Es gibt andere, wichtigere Schrauben, an denen gedreht werden muss. (z.b. die Bachelor-Regelstudienze…iten – Das kostet im Endeffekt natürlich auch Geld, aber der Diskurs muss von der anderen Seite her geführt werden.

2. Unis kosten Geld. Das Geld muss von der Gesellschaft als ganzes irgendwie an die Unis gebracht werden. Wenn Geld verteilt wird, wird automatisch auch immer UMverteilt, da kommt man gar nicht dran vorbei. Wenn man aber nur pauschal mehr Geld (oder eben keine Kürzungen) möchte, reproduziert man nur den semantischen Gleiche-Belastung-Für-Alle Trick.
Genau das passierte ja auch bei den Studiengebühren: Für Leute, die es sich Leisten können, spricht ja egtl nichts dagegen, mit Gebühren zur notwendigen Finanzierung der Unis beizutragen. Das Problem ist die Strukturelle Benachteiligung derer, bei denen die Wahrscheinlichkeit zu studieren eh schon niedriger liegt…
Dieses Argumentationsstrang geht aber (oder ist schon ca. seit letztem Winter) verloren. Letztlich betreibt man hier reine Interessenpolitik für eine konstruierte Allgemeinheit der Studenten, beruft sich aber im Endeffekt dann doch auch wieder auf ein konstruiertes Allgemeinwohl (á la „wir brauchen Akademiker für Deutschland (wahlweise Europa/die Zukunft/etc. pp)

3. Hat das Auswirkungen auf die Gestaltung des gesamten Universitären betriebs. Eine vollständig von der Finanzierung von dritten (der Staat ist so gesehen auch ein „dritter“) abhängige Universität trifft auch nicht grade die Definition von „Unserer Uni“, worunter ich mir eher etwas selbstverwaltetes autonomes vorstellen würde. Man muss sehen: Die universitäten waren auch früher eben NICHT wunderbare Horte von freigeistiger Intelligenz – im Gegenteil. Die Kürzungen tragen nur kurzfristig dazu bei, dass man das wieder spürt. Deswegen sollte man sich nicht unbedingt gegen die Kürzungen arrangieren sondern genau andersrum: Wenn die Mehrheit der Menschen sich dafür entscheidet, dass ein großer nach außen hin freidenkerischer akademischer Apparat -also das, was man gemeinhin als den großen Humboldt-Mythos hochstilisiert, was sich aber de facto dann doch eher als eine Reproduktionsmaschine sozialer Ordnung erweist – nicht mehr gewünscht ist, sollte man das eher akzeptieren und als Gelegenheit nehmen, das Verständnis von Uni wieder von dem wegzubewegen, was es ist (und wohl auch immer war).

Wenn die Gesellschaft die Uni in ihrer Rolle für die Reproduktion marginalisieren will – durch das zudrehen des Geldhahns – dann sollte man diese Loskopplung eigentlich mit offenen Armen Empfangen.

Das klingt jetzt vllt alles nach bemüht extravaganten-ultralinken Endzeitperspektiven – so ist es aber gar nicht gemeint, sondern durchaus ernst. Wenn es wirklich um Bildung gehen soll, MUSS die Rolle, die Position und die Einbindungen von Bildung für die moderne Gesellschaft mitbedacht werden. Das wäre viel wichtiger als der Streit um finanzielle Mittel. Deswegen bin ich noch nicht unbedingt für die Kürzungen, aber doch gegen ein plattes Gegen-die-Kürzungen-Sein.